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Gabriel: Die neoliberale Idee von Europa ist gescheitert

Der Bundestag arbeite bei der Eurorettung "im permanenten verfassungsrechtlichen Ausnahmezustand", sagt der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel und erneuert seine Forderungen nach einer Euro-Volksabstimmung und einer gemeinsamen Wirtschafts- und Steuerpolitik - in "einer deutlich kleineren Währungsunion".

Sigmar Gabriel im Gespräch mit Frank Capellan | 12.08.2012
    Frank Capellan: Herr Gabriel, das ist ja ein ganz besonderer Sommer für Sie. Sie machen eine inoffizielle Babypause. Inoffiziell muss man sagen, weil Bundestagsabgeordnete keine regelrechte Elternzeit in Anspruch nehmen können und nicht dürfen. Wie lässt sich das in Einklang bringen bei Ihnen – SPD-Vorsitzender zu sein und das Töchterchen zu füttern und zu wickeln, das setze ich jetzt mal voraus, dass Sie das tun?

    Sigmar Gabriel: Ja, ja, die schreit ja sonst auch die ganze Zeit. Nein, nein, das ist ja eigentlich gar kein Problem. Es ist Urlaubszeit und Parlamentsferien, ich nutze meinen Jahresurlaub dazu. Und das ist eigentlich kein wirkliches Problem. Ich glaube, andere Menschen haben es weit schwieriger, die Dinge miteinander zu vereinbaren. Da haben wir als Politiker eher ein Privileg.

    Capellan: Ist das denn eine wichtige Erfahrung, die ein Politiker machen sollte?

    Gabriel: Ach, ich weiß nicht, ob ein Politiker das machen muss. Aber jedenfalls als Mensch, als Vater, als jemand, der sozusagen ein Kind bei sich hat, ist das natürlich was Wunderbares.

    Capellan: Ich meinte das deswegen, weil natürlich ein Politiker auch über familienpolitische Dinge zu entscheiden hat. Dann ist es vielleicht gut, wenn man mitreden kann, wie sich das in Einklang bringen lässt, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen.

    Gabriel: Ja, aber noch mal: Wir sollen nicht so tun, als hätten wir Politiker das Hauptproblem. Andere Menschen, bei denen zum Beispiel die Einkommen so sind, dass beide arbeiten müssen, weil es nicht anders geht und auch beide wollen, haben oft viel größere Schwierigkeiten. Wir liegen ja auch in der Einkommensgruppe nun nicht gerade ganz tief, also man muss ein bisschen aufpassen, dass man da nicht so tut, als hätte man jetzt den tiefen Blick ins Leben anderer gemacht. Aber was stimmt, ist: Es gibt schon interessante Erfahrungen. Wir sind auf der Suche nach einem Krippenplatz und werden in Magdeburg, wo wir derzeit wohnen, schnell fündig mit einem tollen Angebot. Das Gleiche, in meiner alten Heimatstadt Goslar, ist superschwer, weil dort das Angebot an Krippenplätzen erstens viel, viel geringer ist und zweitens die Öffnungszeiten für Berufstätige – ich will es mal zurückhaltend sagen – deutlich verbesserungsfähig sind.

    Capellan: Wie sehr haben Sie sich denn über die schlechte Presse gerade in den vergangenen Tagen geärgert, wo es dann hieß: Der macht eine Babypause und ist doch präsent mit allen möglichen Interviews?

    Gabriel: Ich habe ein bisschen gelacht da drüber, weil erstens waren es zum großen Teil Journalisten, die selber keine Kinder haben. Da haben Blinde von der Farbe geredet. Und zweitens: Ich meine, niemand, der Kinder hat – so kleine jedenfalls –, sitzt doch still vor dem Babybett, wenn die schlafen und denkt an nichts anderes als ans nächste Windelwechseln, sondern natürlich machen Menschen, die Kinder haben, auch noch was anderes. Und im Zeitalter des Internets ist es nicht sehr schwer, sich zum Beispiel darüber zu informieren, was tagesaktuell in der Politik los ist. Dazu muss man nicht in Berlin sitzen.

    Capellan: Trotzdem war auffällig, dass viele neue Ideen – Vorschläge, über die wir gleich reden wollen –, von Ihnen kamen. Was machen die anderen? Wir haben eine Troika, wir haben Frank-Walter Steinmeier, Peer Steinbrück, mehrere Stellvertreter, die Generalsekretärin. Sie haben immer gesagt, Sie wollen das Ganze so ein bisschen aufteilen. Jetzt gab es die Kritik, alles kommt vom Vorsitzenden. Hat Sie das verletzt ?

    Gabriel: Ach, Gott. Ich meine, das ist doch ganz normal, dass man als Vorsitzender einer Partei wie der SPD zum Thema Europa oder Bankenkrise, das sind ja die beiden Themen, zu denen ich mich geäußert habe, was zu sagen hat. Wenn man sich zu zwei Themen in dieser Zeit äußert, dann ist es, glaube ich, nicht sehr viel. Und die anderen? - Schauen Sie sich an, was Frank-Walter Steinmeier in den letzten Wochen trotz seines Urlaubs alles machen musste. Und das ist normal in der Politik. Mir wäre es auch lieber, der Deutschlandfunk, die Süddeutsche Zeitung, die Saarbrücker Zeitung oder wer auch immer, würde sich auch für die vielen fleißigen Abgeordneten interessieren, die unterwegs sind und was tun. Es ist nun mal so, dass sich das in der Opposition meistens auf wenige konzentriert. Gott sei Dank sind wir jedenfalls einer Meinung, das kann man von der Bundesregierung offensichtlich nicht sagen, die trotz Sommerpause fleißig streitet.

    Capellan: Darüber werden wir gleich sprechen. Sie haben für viel Diskussionsstoff gesorgt. Sie haben eine Fiskalunion ins Gespräch gebracht, Sie haben über eine Vergemeinschaftung der Schulden in Europa gesprochen, Sie haben eine gemeinsame Finanzpolitik angemahnt, eine Übertragung auch von Haushaltsrechten auf die Europäische Union. Über all das soll am Ende die deutsche Bevölkerung abstimmen, gewissermaßen mit einer neuen Verfassung – kann man ja sagen – den Weg frei machen für ein Mehr an Europa. Ist das wirklich etwas ganz anderes als das, woran die Union denkt?

    Gabriel: Zumindest nicht, wenn Sie Herrn Schäuble, den Bundesfinanzminister, sich anschauen. Der hat ähnliches gesagt. Ansonsten gibt’s allerdings in der CDU/CSU und der FDP komplett andere Meinungen. Was Frau Merkel darüber denkt, ist nicht so ganz klar. Aber worum es eigentlich geht, ist diese "Euroanarchie" zu beenden. Wir haben ja diese gemeinsame Währungsunion, und in dieser Währungsunion macht jeder was er will. Dass das auf Dauer schief gehen muss, das haben viele Leute vorhergesagt. Und wir haben jetzt zwei Alternativen, entweder wir schaffen diesen Geburtsfehler des Euro ab, wir beenden die "Euroanarchie" und sagen: Zu einer gemeinsamen Währung gehört auch eine gemeinsame Haushaltskontrolle, eine gemeinsame Finanz-, Steuer- und Wirtschaftspolitik.

    Capellan: Aber warum glauben Sie, dass die Kanzlerin das nicht möchte, also sie hat in einem ARD-Interview gesagt – wenn ich das mal kurz einflechten darf – Anfang Juli: "Wir brauchen mehr Europa, wir brauchen nicht nur eine Währungsunion, sondern wir brauchen auch eine sogenannte Fiskalunion, mehr gemeinsame Haushaltspolitik. Und wir brauchen vor allen Dingen auch eine politische Union". Ist das nicht Gabriel pur?

    Gabriel: Wenn sie das ernst meint, dann müsste sie ja jetzt öffentlich erklären: Ja, die SPD und wir haben die gleichen Auffassungen. Stattdessen lässt sie sozusagen die Verleumder von der Kette. Ich meine, da wird jetzt behauptet, wir wollten Schulden vergemeinschaften, dabei haben wir das längst. Frau Merkel macht eine heimliche Schuldenunion. Wir beschließen ständig neue Rettungsschirme, für die haftet Deutschland. Und vor allem, das finde ich besonders schlimm, schweigt die Kanzlerin dazu, dass die Europäische Zentralbank Staatsanleihen aufkauft, ohne jede Kontrolle darüber, was in den Staaten getan wird. Die europäische Verschuldung wächst, die Schuldenunion ist da, Deutschlands Haftung steigt ständig – ohne dass wir eine Kontrolle in Europa darüber haben, wie die Finanz- und Haushaltspolitik abläuft. Ich will aber gerne die zweite Alternative sagen, weil die Alternative dazu, die muss man auch offen sagen, ist, dass die Währungsunion nur die Länder umfassen kann, die annähernd die gleiche Finanz-, Wirtschafts- und Steuerpolitik per se betreiben. Das ist eine deutlich kleinere Währungsunion. Aber man muss einfach sagen, diese beiden Alternativen gibt es nur, denn die Rettungsschirme immer größer zu machen, die heimliche Schuldenunion anwachsen zu lassen durch die Europäische Zentralbank – wir merken doch, dass das nicht ausreicht.

    Capellan: Sie haben das lange mitgemacht, die SPD.

    Gabriel: Ja, aber wir haben – Frank Steinmeier, Peer Steinbrück und ich – von Anfang an gesagt, dass der Bundesbankpräsident Jens Weidmann recht hat, wenn er sagt, eine gemeinschaftliche Verschuldung geht nur, wenn man auch eine gemeinschaftliche – er nennt das – Fiskalunion hat. Frau Merkel hat in den letzten Monaten, da haben Sie völlig recht, ähnliche Sätze gesagt. Davor hat sie allerdings über zwei Jahre lang so getan, als sei das Europroblem lediglich ein nationales Problem einzelner Staaten. Das war ein großer Fehler. Wir haben ihr das von Anfang an gesagt und gewarnt davor, 27 Staaten europäischen Staaten zeitgleich ausschließlich eine Sparpolitik zu verordnen. Das muss in die Rezession führen, und jetzt merken wir, diese Rezession erreicht auch Deutschland.

    Capellan: Aber Sie sagen jetzt, die Politik der Rettungsschirme ist im Grunde genommen gescheitert. Also auch der Ansatz der SPD, denn den haben Sie ja immer mitgetragen?
    Gabriel: Noch mal: Wir wissen alle, dass man Übergangsmöglichkeiten braucht – oder sagen wir mal: Krisenmanagement. Dazu zählen sicher die Rettungsschirme. Keiner kann erklären: Morgen haben wir die Fiskalunion, morgen haben wir eine gemeinsame Finanz- und Steuerpolitik. Aber wenn man nur Krisenmanagement betreibt und den Deutschen, den Franzosen, den Briten und wer da alles in Europa dabei ist, nicht sagt, wohin man gehen will, dann muss man sich nicht wundern, wenn die Finanzmärkte das nicht glauben und weiter Wetten gegen den Euro abschließen. Wir müssen offen sagen, wohin die Reise geht oder uns entscheiden, wenn wir uns das nicht zutrauen, wenn wir eine gemeinsame Finanz- und Steuerpolitik und Haushaltspolitik in Europa nicht schaffen oder nicht glauben, dass wir es schaffen, dann muss man sagen: Okay, dann werden wir einigen Ländern das Recht, ihre Währung abzuwerten, zurückgeben müssen, weil das die einzige Chance ist, wettbewerbsfähig zu bleiben. Aber das muss man offen debattieren. Was ich nicht gut finde, dass gar nicht debattiert wird, dass alles verschwiegen wird. Das finde ich eigentlich schade.

    Capellan: Ihre Idee einer Währungsunion – die Union, die Sie sich vorstellen – bedeutet auch, dass viele nicht mehr dabei sein werden. Fiskalunion heißt, dass man sich auf die Eurozone beschränkt. Also da wird die Idee des Kerneuropas, eine christdemokratische Idee von – ich glaube – 1994, wiederbelebt. Oder sehe ich das falsch?

    Gabriel: Also erstens: Der Erste, der von einem Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten geredet hat, war Willy Brandt. Zweitens: Wir haben doch bereits ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Und dort, wo wir eine gemeinsame Währung haben in den 17 Euro-Mitgliedsstaaten, da kann man nicht jeden machen lassen was er will. Also das, glaube ich, geht nicht weiter, und es ist ganz normal, dass man in den 17 Staaten beginnen muss. Aber was wir jetzt machen, ist, dass wir so tun, als könnten wir diese ja etwas doch neoliberale Idee – wir machen eine gemeinsame Währung und in dem Währungsraum macht jeder was er will und der Wettbewerb wird dann schon automatisch dazu führen, dass es allen besser geht – diese Idee ist gescheitert, denn die kann man nicht einfach immer weiter perpetuieren.

    Capellan: In der CDU wird bereits über ein Eurozonen-Parlament nachgedacht. Muss man zu so weit reichenden Veränderungen kommen, dass man sagt, neben dem EU-Parlament haben wir noch eines, was nur für die Eurozone zuständig ist?

    Gabriel: Jedenfalls eins geht nicht, dass wir – sagen wir mal – in Europa weiter einen relativ undemokratischen Weg gehen. Denn die Staats- und Regierungschefs, die dort entscheiden, sind entscheidungsmächtiger als das gewählte Europäische Parlament. Zu den Veränderungen in Europa gehört sicher auch eine Demokratisierung, denn am Ende müssen Wählerinnen und Wähler entscheiden können, auf welchem Weg vorangegangen wird. Übrigens zum Thema Volksabstimmung: Auch darauf hat ja Wolfgang Schäuble zu recht hingewiesen. Wenn man den Weg gehen will zu einer gemeinsamen Finanz- und Steuerpolitik, dann geht das in Deutschland nur durch eine Änderung der Verfassung. Das hat uns das Bundesverfassungsgericht aufgeschrieben. Was wir heute machen, ist, wir arbeiten im Deutschen Bundestag im permanenten verfassungsrechtlichen Ausnahmezustand. Das ist auch ein unhaltbarer Zustand, und das Bundesverfassungsgericht wird am 12. September ein Urteil sprechen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es uns nicht ins Stammbuch schreibt, dass wir uns zu entscheiden haben, welchen Weg wir in Europa gehen wollen.

    Capellan: Aber haben Sie keine Angst vor einer solchen Abstimmung, denn die Demoskopen sagen eigentlich, dass die Deutschen das nicht wollen – eine Vergemeinschaftung von Schulden und mehr Europa, einen eigenen Finanzminister, möglicherweise schwebt Ihnen das ja sicherlich vor.

    Gabriel: Am meisten habe ich Angst davor, dass wir so weitermachen wie bisher und am Ende sich alle enttäuscht abwenden und Europa ruiniert ist.

    Capellan: Aber was wäre, wenn die Bevölkerung "Nein" sagen würde in dieser Hinsicht?

    Gabriel: Ich sage Ihnen: Die Alternative ist, dass man die Menschen überzeugen muss. Wenn das nicht gelingt, wenn die Menschen sich dem verweigern, dann muss man das so zusagen akzeptieren. Ich glaube nur nicht, dass man Menschen nicht davon überzeugen kann. Mein Hauptargument für Europa ist ja, dass unsere Kinder und Enkel uns verfluchen werden, wenn wir Europa nicht beieinander halten.

    Capellan: Ich verstehe Sie aber richtig: Ihrer Ansicht nach braucht Europa einen gemeinsamen Finanzminister, es bedarf auch einer gemeinsamen Steuerpolitik, das Steuerrecht muss verändert werden?

    Gabriel: Na klar, es ist unfassbar, dass es einige Staaten gibt in Europa, die ganz niedrige oder gar keine Steuern erheben, dann in Schwierigkeiten geraten, und ein Land wie Deutschland dann sozusagen seine Steuergelder da hinschicken muss. Das ist ja eine irre Vorstellung. Am Ende glaube ich, dass wir eine echte europäische Regierung brauchen und nicht eine Technokraten-Kommission, wie wir sie heute haben.

    Capellan: Wie schnell kann so was gehen?

    Gabriel: Jedenfalls werden wir umso länger brauchen, je später wir beginnen, das öffentlich zu debattieren. Was wir jedoch heute erleben, ist so eine Art Diktat der angeblichen Alternativlosigkeit der Rettungsschirme, ohne zu erklären, wohin die Reise gehen soll. Und so kann man Menschen nicht überzeugen.

    Capellan: Die Kanzlerin hat gesagt: "Die Fiskalunion, das mag mal kommen, aber nicht so lange ich lebe." In welchen zeitlichen Dimensionen denken Sie?

    Gabriel: Na ja, alle Leute verplappern sich mal, das ist mir auch schon passiert. Das darf man, glaube ich, nicht so ernst nehmen. Helmut Schmidt hat ein interessantes Interview gemacht vor ein paar Tagen. Er hat gesagt, er wünscht sich, dass es in der jetzigen Bundesregierung mehr überzeugte Europäer wie Wolfgang Schäuble gibt. Dem kann man nur zustimmen. Das wäre wünschenswert, mal abseits davon, dass wir 2013 Bundestagswahlen haben und die Sozialdemokraten da den Kanzler stellen wollen. Bis dahin wäre es sehr wünschenswert, wenn Frau Merkel nicht nur ab und zu mal sagen würde, wohin es gehen soll, sondern klar sagt, was sind die Alternativen, darüber können wir diskutieren. Es ist nichts Schlimmes, zu sagen, es gibt auch Alternativen dazu, etwa eine kleinere Währungsunion. Dass es Alternativen gibt und dass man die beraten muss, das ist das Wesen der Demokratie. Und stattdessen tun wir heute so, als sei alles alternativlos und machen immer mehr heimliche Schuldenberge.

    Capellan: Sie sagen jetzt, wenn wir die Schulden vergemeinschaften, dann kostet das Deutschland auch sehr viel Geld. Bisher war immer der Eindruck entstanden, dass man nur über Bürgschaften redet, und wenn alles gut geht, muss man gar nicht viel bezahlen. Also, ist das Ihre Devise, jetzt Klartext zu reden und den Bürgern klar zu machen, die Eurorettung kostet viele Milliarden, auch Deutschland?

    Gabriel: Also, Klartext ist – und das wissen, glaube ich, auch die Menschen ganz genau –, dass wir bereits heute gigantische Lasten auf Deutschland bringen, nur dass wir das verschweigen, dass das sozusagen versteckt wird in der Europäischen Zentralbank. Frau Merkel macht ja eine merkwürdige Doppelstrategie. Sie schimpft über die Vergemeinschaftung von Schulden, lässt aber augenzwinkernd sozusagen diese, wenn Sie so wollen, Schmutzarbeit die Europäische Zentralbank machen. Das geht so nicht gut. Was ich mir vorstelle, was wir uns als Sozialdemokraten vorstellen, ist nicht eine Schuldenunion, sondern ist der Versuch, durch eine gemeinsame Steuer- und Haushalts- und Finanzpolitik zu verhindern, dass einzelne Staaten zu Lasten anderer Staaten immer mehr Schulden machen statt sich Gedanken darüber zu machen, wie sie ihre Wirtschaftspolitik verändern müssen, um mehr Wohlstand und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu bekommen. Wir merken doch, dass das Zusammenbrechen der europäischen Wirtschaft dazu führt, dass bei uns die Aufträge fehlen. Wir sind eine Exportnation. Wir haben das größte Interesse daran, dass es anderen in Europa auch gut geht.

    Capellan: Nun wäre die Alternative zu einer Volksabstimmung über mehr Europa auch eine Grundgesetzänderung per Zweidrittelmehrheit. Da würde vieles auch für eine Große Koalition sprechen, gerade, wenn man so große Sachen vorhat.

    Gabriel: Also, ich glaube jedenfalls, dass man am Ende, wenn man wirklich nationale Souveränitätsrechte übertragen will, am Artikel 146 des Grundgesetzes nicht vorbeikommt. Und da reicht dann keine Zweidrittelmehrheit für eine Grundgesetzänderung, sondern da muss man das Volk befragen. Das ist auch gut so. Das zwingt auch die Parteien, zu argumentieren und sich nicht ständig zu verstecken. In wichtigen außen- und europapolitischen Fragen versuchen wir, eine breite Mehrheit im Parlament zu schaffen. Dazu muss man nicht in eine Große Koalition gehen.

    Capellan: Wir haben jetzt viel über langfristige Perspektiven gesprochen. Was ist kurzfristig zu tun in Sachen Eurorettung? Der IWF denkt darüber nach, Griechenland einen neuen Schuldenschnitt zugutekommen zu lassen. Würde die SPD da mitmachen?

    Gabriel: Das muss man sich genau anschauen. Ich meine, ich halte es für sehr schwer, jedenfalls so lange zum Beispiel es nicht unterbunden wird in der Europäischen Union, dass Millionäre und Milliardäre aus Griechenland ihr Geld ins Ausland schaffen, auf europäische Konten schaffen, also Steuerhinterziehung betreiben. Ich meine, das wird hier einfach so geduldet in Europa. Und solange das passiert, das sollen ja unglaubliche Beträge sein, ist es schwer, auf die Idee zu kommen, noch ein neues Griechenlandpaket zu schnüren.

    Capellan: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute mit dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel. Herr Gabriel, das Stichwort Steuerhinterziehung fiel gerade. Die SPD möchte sich ja profilieren auch immer wieder gerne als Partei der Steuergerechtigkeit. Sie hat sich strikt gegen ein Steuerabkommen mit der Schweiz ausgesprochen. Das ist noch nicht ratifiziert worden. Und dennoch: Das SPD-geführte Nordrhein-Westfalen brüskiert Finanzminister Wolfgang Schäuble nun durch den Kauf weiterer Steuer-CDs. Ist das als gezielte Provokation der Bundesregierung zu verstehen und gewollt von Ihnen?

    Gabriel: Nein, sondern es geht erst mal darum, dass wir gegen dieses Steuerabkommen sind, weil es die Steuerhinterziehung legalisiert und so viel Zeit schafft für Steuerhinterzieher, ihr Geld woanders hin zu schaffen, dass es am Ende unwirksam ist. Und was den Ankauf solcher CDs angeht, ich meine, das ist in Deutschland nach höchstrichterlicher Rechtssprechung möglich, dass man sich als Staat Informationen verschafft, um Menschen, die gegen das Gesetz verstoßen, vor Gericht zu bringen.

    Capellan: Aber nicht nach dem Steuerabkommen.

    Gabriel: Nein, das Steuerabkommen soll ja die Steuerhinterziehung gerade legalisieren. Das ist ja das, was wir für unmöglich halten. Jeder normale Arbeitnehmer wird gar nicht gefragt, dem wird das Geld gleich abgezogen. Der sieht das gar nicht, das Finanzamt kassiert das sofort. Und hier haben wir ja mit Schweizer Banken Formen der organisierten Kriminalität. Das ist das, was mich richtig aufregt.

    Capellan: Aber die Schweizer versprechen, eine Steuer zu erheben.

    Gabriel: Ja, aber minimal. Und vor allen Dingen haben sie so viele Lücken in diesem Abkommen, dass die alle ihr Geld rechtzeitig in Sicherheit bringen können. Wissen Sie, es gibt in Deutschland den Paragraphen 370 der Abgabenordnung. Da steht drin, dass, wenn man bandenmäßig Steuern hinterzieht – eine Bande ist, wenn es mehr als zwei oder drei Leute sind, das ist eine Bande juristisch – dass man dann mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden kann. Das ist ein schwerer Straftatbestand. Hier reden wir über organisierte Kriminalität in Schweizer Banken in Deutschland. Was mich ärgert ist, dass wir hier offensichtlich nicht in der Lage sind, mal eine Schwerpunktstaatsanwaltschaft zu gründen – zum Beispiel in Frankfurt. Da haben die alle ihren Sitz – und das zu tun, was die USA tut. Die haben schlicht und ergreifend Schweizer Banken mit Strafverfolgung bedroht, zu Recht, wie ich finde. Warum trauen wir uns das eigentlich nicht? Oder warum übergeben wir das nicht dem Generalbundesanwalt, damit er dagegen ermittelt? Die werden Ruckzuck aufhören, da bin ich ganz sicher.

    Capellan: Die SPD hat einiges vor in Sachen Steuern. Sie haben nun gemeinsam mit den Grünen Eckpunkte vorgelegt für die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, Sie wollen eine Reichensteuer, auf jeden Fall einen höheren Spitzensteuersatz. Soll da ein Wahlkampf über eine Neiddebatte geführt werden?

    Gabriel: Nein, gerade nicht. Ich finde auch diesen Begriff der 'Reichensteuer' völlig verrückt. Wohlstand und Reichtum, dahinter steckt jedenfalls meistens sehr hohe persönliche Leistung. Was wir nur sagen, ist, selbst die größte persönliche Leistung alleine macht Menschen in der Regel nicht wohlhabend und reich, sondern dazugehört auch ein Land mit guter Bildung, mit Rechtsstaat, mit sozialem Frieden. Und wenn dieses Land in Schwierigkeiten ist, und das ist Deutschland derzeit, dann ist es nur normal, dass man die, die auch mithilfe des Landes reich und wohlhabend geworden sind, ein bisschen mehr um Unterstützung bittet. Ich halte das eher für einen Akt von sozialem Patriotismus. Und es geht um relativ geringe Größenordnungen. Wir reden über die Erhöhung des Spitzensteuersatzes auf 49 Prozent ab einem Jahreseinkommen pro Person von 100.000 Euro. Unter der CDU war der Spitzensteuersatz lange bei 53 Prozent. Wir reden darüber, dass wir etwas wiedereinführen, was in der Verfassung steht, nämlich die Vermögenssteuer, aber erst ab Größenordnung eines privaten Vermögens von zwei Millionen pro Person. Und wir wollen natürlich die Betriebe davon ausnehmen. Also, es geht schon auch darum, dass man lenkend tätig wird, damit es sich lohnt, in normale Betriebe zu investieren, vor allen Dingen in Familienunternehmen, und nicht das Geld nur in Finanzmärkten sozusagen verzockt wird.

    Capellan: In steuerlichen Fragen ist sich die Koalition gerade auch uneins, was die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften angeht. Das Ehegattensplitting für Homosexuelle, muss das generell gelten Ihrer Ansicht nach?

    Gabriel: Ich bin eher der Meinung, dass wir weg müssen vom Ehegattensplitting und hin zu einem Familiensplitting, also dass wir Familien mit Kindern fördern und nicht nur den Eheabschluss. Aber solange man das nicht hat, muss es natürlich eine Gleichbehandlung geben der Lebenspartnerschaften. Aber eigentlich bin ich der Überzeugung, dass man das Ehegattensplitting umwandeln muss in ein Familiensplitting. Was die CDU jetzt macht ist, dass sie einen Streit führt über etwas, was eigentlich in der Gesellschaft längst entschieden ist. Für die allermeisten Menschen in Deutschland ist es klar, dass man homosexuelle Paare gleichbehandeln muss. Für die Sozialdemokraten und die Grünen ist das schon lange so. Die Union hat damals verhindert, dass wir eine echte Gleichstellung bekommen von Lebenspartnerschaften mit der Ehe. Und jetzt, wenn Sie so wollen, gibt es bei der CDU ein paar Leute, Gott sei Dank, die so eine nachholende Modernisierung machen wollen, leider offensichtlich nicht genug.

    Capellan: Sigmar Gabriel, ich möchte zum Schluss den Bogen spannen zum Beginn unseres Gespräches. Wir haben festgestellt – Sie haben nicht widersprochen – dass Sie relativ präsent waren, jetzt auch in der Sommerpause. War das abgesprochen auch innerhalb der Troika? Man hat sich gefragt, wo ist Peer Steinbrück, gerade in der Europolitik?

    Gabriel: Also, erstens war er im Urlaub, und zwar außerhalb Deutschlands. Dazu hat er auch jedes Recht. Und machen Sie sich keine Sorgen, der wird sich schon zu Wort melden. Zweitens, was wir dort machen sprechen wir immer ab. Also, das ist, glaube ich, der große Unterschied zur Bundesregierung, wenn ich das mal ein bisschen spaßhaft sagen darf. Und drittens, ich bin Vorsitzender der deutschen Sozialdemokraten. Und das ist eine Aufgabe, wo Sie nicht einfach erklären können, Sie werden jetzt mal zum stummen Fisch oder so.

    Capellan: Bleibt es dabei, dass die K-Frage erst nach der Wahl in Niedersachsen im kommenden Januar entschieden werden soll?

    Gabriel: Ja. Ich glaube, dass es einfach unsinnig ist, Personaldebatten sozusagen weit entfernt von der Bundestagswahl zu führen. Ich glaube auch nicht, dass die Menschen das von uns jetzt erwarten. Sie erwarten von uns, glaube ich, einen seriösen Umgang mit den schwierigen Fragen dieser Zeit. Und natürlich werden wir um die Jahreswende, spätestens nach der Niedersachsenwahl, auch sagen, wer die SPD in den Bundestagswahlkampf als Kanzlerkandidat führen wird.

    Capellan: Aber Ihr Hintergedanke ist doch wahrscheinlich, auch absehen zu können, welche Machtoptionen sich für den Bund dann nach der Wahl in Niedersachsen ergeben? Wenn die FDP - ich sage mal im "Rösler-Land" Niedersachsen verliert, dann wird es möglicherweise Turbulenzen an der Spitze geben, einen neuen Chef, vielleicht auch einen solchen, der für eine Ampel- Koalition zu haben wäre.

    Gabriel: Ach, ich meine, wenn es danach geht, dann ist ja sichergestellt, dass es in Niedersachsen einen Regierungswechsel geben wird. CDU und FDP werden dort genau so wenig eine Mehrheit haben wie im Bund. Das ist doch das eigentliche Problem der Union, dass sie, egal was Frau Merkel macht oder in Niedersachsen Herr McAllister macht, sie keine wirkliche Regierungsoption haben. Und für die Sozialdemokraten in Niedersachsen, aber auch im Bund, ist absolut klar, wir wollen gemeinsam mit den Grünen eine Regierungsmehrheit haben. Wir sind nicht deshalb gegen andere Konstellationen, weil irgendwie wir was gegen andere Parteien hätten oder weil man sich nicht riechen kann, sondern bei Regierungen geht es immer darum, dass man eine politische Mehrheit hat, das man genug gemeinsame Überzeugung hat. Es nützt nichts, nur eine Regierung zu bilden, weil es mathematisch gerade reicht. Das sehen wir an der jetzigen Bundesregierung.

    Capellan: Also mit der Linkspartei ist nichts zu machen?

    Gabriel: Nein. Das sind ja in Wahrheit zwei Parteien. In Wahrheit ist ja nicht die PDS im Westen angekommen, sondern die Sektierer aus dem Wesen sind in der PDS angekommen. Und die können sich nicht einigen, was sie für eine Partei sein wollen. Und damit können sie keine Regierung auf Bundesebene bringen. Also, insofern geht es immer bei Regierungsbildung darum, wer hat genug Gemeinsamkeiten. Wenn Sie nur gucken, bei wem passt das rechnerisch, geht das schief.

    Capellan: Es muss aber auch rechnerisch passen. Und da spricht wenig dafür bei Rot-Grün.

    Gabriel: Wie kommen Sie auf die Idee? Die letzten Landtagswahlen, es gab ja elf Stück, da gab es ganz viele, bei denen Rot-Grün eine Mehrheit hatte. Also, ich bin da ganz optimistisch.

    Capellan: Sie twittern gerne, sind bei Facebook aktiv. Machen Sie das mit Blick auf die Konkurrenz der Piratenpartei, oder macht es auch Spaß?

    Gabriel: Nein. Es macht erstens Spaß – nicht immer, aber macht schon auch Spaß. Aber ich glaube, es ist einfach ganz normal. Es ist ein zusätzlicher Kommunikationskanal zu den klassischen Kommunikationskanälen. Der hat den großen Vorteil, dass die Menschen, die man da erreicht, dass die sich sofort zurückmelden. Es gibt auch eine Menge Verschwörungstheorien, die da rumgeistern.

    Capellan: Aber viele wollen lieber über Ihre Kaffeetasse reden als über Ihr Steuerkonzept.

    Gabriel: Ja, zumindest melden die sich dann. Ich finde manches daran witzig. Man kriegt übrigens auch manchmal einen ziemlichen Schreck, wenn man sieht, welche abgrundtiefe Verachtung gegenüber Demokratie und Politik und Parteien sich da tummelt, auch in der Anonymität des Netzes. Aber an sich ist das einfach eine neue zusätzliche Kommunikation. Und unser Geschäft ist Kommunikation. Und deswegen muss man das auch nutzen.

    Capellan: Sigmar Gabriel, danke für das Gespräch!

    Gabriel: Bitte.


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