Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Gabriel García Márquez singt

Der männlichkeitsdampfende Roman von Gabriel García Márquez gefällt sich nicht nur in barocker Opulenz und Deftigkeit, sondern entwickelt irrwitzige Züge, stark surrealistische Komponenten. Auf der Opernbühne wirkt der Blick auf den elend trivialen Diktator, wie er das politische Gesicht Lateinamerikas seit bald zweihundert Jahren prägt, merkwürdig domestiziert: Der patriarchalische Schurke auf der politischen Bühne, der eigentlich längst mausetot sein müsste, sich aber immer wieder erhebt, dieser menschliche Abgrund gewinnt mit Karsten Küsters einen dergestalt sympathischen Zuschnitt, dass man dieser politischen Niete eigentlich gar nicht glauben möchte, dass sie aus kaltem Kalkül Rivalen abschlachten lässt oder aus reiner Willkür die Füsilierung von 2.000 Jugendlichen anordnet. Die eher mühsame als erotisch entspannte Erfüllung inzestuöser Wünsche – mit der vögelliebenden mumifizierten Mutter Benedición Alvarado – nimmt man dem freundlichen älteren Herrn schon eher ab.

Von Frieder Reininghaus | 08.06.2004
    Giorgio Battistelli war seit seinem musiktheatralischen Debüt mit "Harmonia mundi" schon für manche Überraschung gut; er schrieb u.a. eine neue, bühnenwirksame Chaosmusik zu Federico Fellinis "Orchesterprobe, zuletzt – auf der Klippe messerscharfer Scheide – eine markante Melange zu Ernst Jüngers "Auf den Marmorklippen". Den von Márquez angeregten Faltenwurf der Geschichte, dem die Originalsprache belassen wurde, hüllte er in einen dicken bunten Klangmantel:
    Melodiös und expressiv fiel der Tonsatz aus, der die Rückblenden auf den "ideellen Gesamtdiktator" ausstattet, aufschäumt und ausgleiten lässt. Der Dirigent Stefan Klingele nutzt mit dem erheblich geforderten Chor und den zu Raumklang disponierten Bremer Philharmonikern die reichen Effekte der neuen musikalischen Prächtigkeit und Inbrunst wie die filigranen Momente zu einer höchst effektiven und am Ende stürmisch gefeierten Leistung. Der Ton, in dem es gelegentlich brahmst und Verdi-Spurenlese bereichert, indem sich sogar der Hodenbruch immer wieder mit einer Sopranpartie zu Wort meldet, etablierte ein Aroma besonderer Art, allerdings ohne offensichtlichen folkloristischen Zitate; am Ende mag es einem dennoch vorkommen, als wäre man zur Exkursion ins Unterhaus einer verwirrenden Neuen Welt mitgenommen worden, in dem nicht nur andere politische Regeln gelten, sondern auch nicht die mitteleeuropäischen ästhetischen Normen. [Der Auftraggeber, Generalintendant Klaus Pierwoß, weiß, was sich das Bremer Theater durch diesen Komponisten an Land gezogen hat:
    Weit weniger als die dichte und sehr wohl in oratorischer Aufführung plausible Musik überzeugte die Szene. "Überall Kühe" sieht das Libretto immer wieder vor. Konsequent hat Rosamund Gilmore die dreistufige Bühneninstallation von Carl Friedrich Oberle mit den weißen Tieren bevölkert, die wohl auf die Rückständigkeit und Duldsamkeit der diktatorisch regierten Landstriche anspielen. Die multifunktionale Stufen-Architektur deutet den Palast des Patriarchen an und einen mediterranen Friedhof; auf den Dachsparren lauern Chiffren der Vogelwelt und darüber erhebt sich ein Gewölbe aus Bananenblättern unterm postkartenblauen Himmel. Man hätte sich die Annäherung an das überlebensfähige Überlebte weit weniger konkretistisch vorstellen können – eher also große Momente von hundert Jahren Einsamkeit auf der Bühne als immer wieder neu kostümierte Volksmassen.

    Doch Battistellis elaborierte und für sich allein schon bildmächtige Musik entschädigt für die szenischen Schwächen.

    Und die kleinen Pannen bei der Premiere werden in den Folge-Aufführungen sicher behoben werden – die Kürbisse also nicht mehr zu früh explodieren und die Choristen, die die Fensterläden aus den Angeln heben, umdrehen und zum großen Bild des großen Patriarchen auf großem Fahnenhintergrund fügen, das Puzzle vollends richtig zusammensetzen.