Die Interpretation von Geschichte beinhaltet bekanntlich allzu oft die Tendenz, bestehende Herrschaftsstrukuren zu legitimieren - oder auch diese zu bekämpfen. Dies ist keineswegs eine Spezialität des überlebten historischen Materialismus marxistischer Provenienz. Dass sie oftmals zumindest aber zur Identitätsstiftung oder zur Befriedigung tagespolitischer Begehrlichkeiten eingesetzt wird, das hat nicht zuletzt etwa der Historikerstreit in den achtziger Jahren bewiesen.
Ernst Nolte hat damals den recht abstrusen Versuch unternommen, die Singularität des Holocaust in Zweifel zu ziehen, ihn vielmehr mit dem Terror Stalins qualitativ auf eine Stufe zu stellen. Er suchte darüber hinaus einen "kausalen Nexus" zwischen Archipel Gulag und Auschwitz herzustellen, indem er den Mord an den europäischen Juden als vermeintlich präventive Maßnahme definierte, die den Zweck gehabt haben soll, eine angenommene "jüdisch-bolschewistische" Vernichtungsabsicht abzuwehren. Dieser abwegige Versuch Noltes konnte sich im seriösen Diskurs der Historiographie bekanntlich nicht durchsetzen.
Eine weitere Lieblingsthese rechtskonservativer Apologeten war und ist - nicht erst seit dem Historikerstreit - die Idee von Hitlers angeblichem Präventivkrieg gegen die Sowjetunion, der am 22. Juni 1941 einem Überfall Stalins nur um Wochen oder Monate zuvorgekommen sein soll. Die tiefste Wurzel dieser Konstruktion, deren Sinn in der Abwälzung der Verantwortung für den Vernichtungskrieg besteht, reicht in die Propaganda der Nationalsozialisten selbst. Dies zeigt Hitlers Proklamation, die am Tag des Angriffs von Goebbels verlesen wurde:
"Nationalsozialisten! Ihr habt es einst wohl alle gefühlt, dass dieser Schritt für mich ein bitterer und schwerer war. Niemals hat das deutsche Volk gegen die Völkerschaften Russlands feindselige Gefühle gehegt. Allein seit über zwei Jahrzehnten hat sich die jüdisch-bolschewistische Machthaberschaft von Moskau aus bemüht, nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa in Brand zu stecken. - Heute stehen rund 160 russische Divisionen an unserer Grenze. Seit Wochen finden dauernde Verletzungen dieser Grenze statt, nicht nur bei uns, sondern ebenso im hohen Norden wie in Rumänien. - Damit aber ist nunmehr die Stunde gekommen, in der es notwendig wird, diesem Komplott der jüdisch-angelsächsischen Kriegsanstifter und der ebenso jüdischen Machthaber der bolschewistischen Moskauer Zentrale entgegenzutreten."
So alt diese Präventivkriegsthese also ist, so vielfach ist sie von der Geschichtswissenschaft widerlegt und ins Reich der Verschwörungstheorien verwiesen. Was bestimmte Personen - darunter auch renommierte Historiker wie Joachim Hoffmann, Ernst Nolte und Werner Maser, aber auch einflussreiche Publizisten wie Günther Gillessen von der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" - nicht davon abhält, genau jene These immer wieder zu reproduzieren, mehr oder weniger ignoriert vom Mainstream der Wissenschaft.
Einer aber hat sich dagegen entschieden, zu jener immer wieder aufgewärmten These zu schweigen: Gabriel Gorodetsky. Um es vorweg zu nehmen: Mit seinem Buch "Die große Täuschung. Hitler, Stalin und das Unternehmen 'Barbarossa'", das nun in deutscher Übersetzung vorliegt, revolutioniert Gorodetsky in keiner Weise den bisher gültigen Forschungsstand. Durch eine Fülle von Details und bisher nicht zugänglichen Quellen aus russischen, aber auch britischen, jugoslawischen und bulgarischen Archiven tritt er der Präventivkriegsthese ein weiteres Mal entgegen. Denn die rasseideologischen und strategischen Grundüberzeugungen Hitlers zielten darauf ab, die Sowjetunion früher oder später anzugreifen. Bei diesen Planungen haben sich weder Hitler noch die Generalität auf die Notwendigkeit eines Präventivschlages berufen. Schließlich war der Feldzug gegen die Sowjetunion von Beginn an ein Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg. Die Präventivkriegsthese fällt unter dieser historischen Beweislast a priori in sich zusammen.
Ein Schlüsseldokument der rechtskonservativen Apologetik, dem Gorodetsky sich unter anderem widmet, ist der Vorschlag des Generalstabschefs Schukow vom 15. Mai 1941, dem deutschen Aufmarsch mit einer Gegenoffensive zuvorzukommen. Doch der Autor betont in seiner minutiösen Darstellung: Diese Weisung ist von Stalin nicht einmal paraphiert worden, und Schukow legte schon am nächsten Tag eine zweite Weisung vor, die eine defensive Entfaltung der Roten Armee in Erwartung eines deutschen Angriffs vorsah. Und auch die erste Version von Schukows Plan trug eindeutig defensiven Charakter. Hierin heißt es:
"Da Deutschland die Armee gegenwärtig in vollem Mobilisierungszustand hält und auch das Hinterland umfassend mobilisiert hat, ist es in der Lage, einen Überraschungsangriff gegen uns zu führen. Um das zu verhindern, halte ich es für entscheidend, es dem deutschen Oberkommando auf keinen Fall zu gestatten, die Initiative zu ergreifen. Es gilt, dem Aufmarsch des Gegners zuvorzukommen und die deutsche Armee zu einem Zeitpunkt anzugreifen, da sie sich mitten in der Entfaltung befindet, bevor sie die Front umfassend organisiert und das Vorgehen der einzelnen Kräfte koordiniert hat."
Gorodetskys Hauptanliegen besteht nicht nur darin, die Behauptungen seines Widersachers, des übergelaufenen Geheimdienstoffiziers Victor Suvorov, zu widerlegen, dessen Buch "Der Eisbrecher" dank der "Frankfurter Allgemeinen" auch in Deutschland intensiv rezipiert worden war. Der Autor möchte insgesamt mehr Licht in die Politik Stalins vor Ausbruch des Krieges bringen und die Verengung der Perspektive auf die deutsch-sowjetischen Beziehungen auflösen, indem er das komplexe internationale Interessengeflecht darstellt. Doch was war die Rolle Stalins in diesem "Großen Spiel", wie der es nannte? Gorodetsky charakterisiert sie wie folgt:
"Stalins Herrschaftssystem hatte in der Tat seine ganz eigenen despotischen Methoden. Und doch wäre es falsch, die sowjetische Außenpolitik den Launen eines Tyrannen oder einem ruhelosen, ideologisch geprägten Expansionsdrang zuzuschreiben. Stalins Politik erscheint als durchaus vernünftig und durchdacht, eine skrupellose Realpolitik, die einem klar umrissenen geopolitischen Interesse diente."
Stalins langfristiges Ziel lag in der Wiederherstellung der Großmachtstellung in Europa, die durch die Folgen des Ersten Weltkriegs, der Okoberrevolution 1917 und des Versailler Vertrags zerstört worden war. Und er wählte das Mittel der Diplomatie zur Durchsetzung seiner Politik, weil er wusste, dass die Rote Armee durch seine eigenen brutalen "Säuberungen" schwer gelitten hatte. Deshalb betrieb Stalin gegenüber Hitler-Deutschland eine Art Appeasement-Politik, die freilich vom Aufbau der Roten Armee flankiert war.
Sein vordringliches Ziel aber blieb es nach Ansicht des Autors, die Revolution nach außen abzuschirmen und die Deutschen auf keinen Fall zu provozieren. Er war auch wenig geneigt, sich von den Westmächten in den Krieg hineinziehen zu lassen und für sie, so wörtlich, die "Kastanien" aus dem Feuer zu holen. Selbst als der deutsche Aufmarsch nicht mehr zu verkennen war, beschied Stalin seinen Militärs:
"Wir haben einen Nichtangriffspakt mit Deutschland; Deutschland steckt bis über beide Ohren im Krieg im Westen, und ich bin sicher, dass Hitler es nicht riskieren wird, durch einen Angriff auf die Sowjetunion eine zweite Front zu eröffnen. Hitler ist kein solcher Idiot. - Schlagen Sie vor, die Mobilmachung im Lande auszurufen, die Truppen jetzt zu alarmieren und an die Westgrenze zu schicken? Das bedeutet Krieg!"
Selbst als Schukow Stalin über den deutschen Angriff informierte, schien der immer noch zu glauben, die Wehrmacht sei dabei, ohne Hitlers Billigung einen Krieg zu provozieren. So verbot er der sowjetischen Armee, die Einsatzbefehle voll auszuführen.
Dass der deutsche Überfall Stalin so unvorbereitet traf, ist laut Gorodetsky vor allem darauf zurückzuführen, dass die Sowjetunion keine wirkliche Alternative hatte, das Geschehen zu bestimmen. Denn Stalin habe seine Rote Armee frühestens 1943 für stark genug gehalten, sich mit der deutschen Wehrmacht zu messen. Im Gegenteil: Er habe gehofft, Russland würde den Krieg vermeiden und die Früchte einer Friedenskonferenz ernten können, die er für das Jahr 1941 erwartete.
Diese Passage in Gorodetskys Buch illustriert, dass der Autor den grundsätzlich vorhandenen Expansionswillen Stalins offensichtlich unterschätzt. Kam dieser doch nicht nur in den geheimen Zusatzprotokollen zum Hitler-Stalin-Pakt von 1939 zum Ausdruck, sondern auch in der Annexion des Baltikums, Bessarabiens und der nördlichen Bukowina im Windschatten der Erfolge Hitlers im Westen. Schließlich ist Stalins Hoffnung auf einen Abnutzungskrieg zwischen den kapitalistischen Ländern nicht zu vergessen, aus dem die Sowjetunion als lachender Dritter würde hervorgehen können. Zwar bestimmten primär Sicherheitsbedürfnisse die sowjetische Diplomatie. Zu Stalins flexibler Taktik gehörte aber auch das Streben nach territorialem Gewinn, wo dieser relativ gefahrlos für die eigene Sicherheit zu erreichen war.
Auf der Sollseite des Buches steht neben dieser gewissen Schieflage ein etwas überholtes und fast merkwürdig erscheinendes personenzentriertes Geschichtsbild, das sich durch das ganze Werk zieht. Darüber hinaus fehlt manchmal die große Linie, und die Fülle der Details stiftet oft mehr Verwirrung,als dass sie Klarheit schafft.
Was der Autor ebenfalls nicht deutlich genug macht, ist folgendes: Um die Präventivkriegsthese zu bestätigen, wäre der Nachweis erforderlich, dass die NS-Spitze in Erwartung eines unmittelbar bevorstehenden sowjetischen Angriff gehandelt hat. Es gibt aber keine Quelle, die auch nur den geringsten Ansatzpunkt für eine solche Interpretation eröffnet. Im Gegenteil: Der Kriegskurs Hitlers war völlig autonom.
Bleibt die Frage, ob es sich lohnt, sich so intensiv mit der längst obsoleten Präventivkriegs-These auseinanderzusetzen. So lange aber auch renommierte publizistische Institutionen derlei Thesen verbreiten, bleibt eine Widerlegung des längst Widerlegten und eine Zurückweisung der Versuche, die Geschichte zu instrumentalisieren, immer wieder einmal vonnöten.
Gabriel Gorodetsky: Die große Täuschung. Hitler, Stalin und das Unternehmen "Barbarossa". Veröffentlicht im Siedler Verlag, Berlin, der Band umfasst 512 Seiten und kostet 49,90 DM.
Ernst Nolte hat damals den recht abstrusen Versuch unternommen, die Singularität des Holocaust in Zweifel zu ziehen, ihn vielmehr mit dem Terror Stalins qualitativ auf eine Stufe zu stellen. Er suchte darüber hinaus einen "kausalen Nexus" zwischen Archipel Gulag und Auschwitz herzustellen, indem er den Mord an den europäischen Juden als vermeintlich präventive Maßnahme definierte, die den Zweck gehabt haben soll, eine angenommene "jüdisch-bolschewistische" Vernichtungsabsicht abzuwehren. Dieser abwegige Versuch Noltes konnte sich im seriösen Diskurs der Historiographie bekanntlich nicht durchsetzen.
Eine weitere Lieblingsthese rechtskonservativer Apologeten war und ist - nicht erst seit dem Historikerstreit - die Idee von Hitlers angeblichem Präventivkrieg gegen die Sowjetunion, der am 22. Juni 1941 einem Überfall Stalins nur um Wochen oder Monate zuvorgekommen sein soll. Die tiefste Wurzel dieser Konstruktion, deren Sinn in der Abwälzung der Verantwortung für den Vernichtungskrieg besteht, reicht in die Propaganda der Nationalsozialisten selbst. Dies zeigt Hitlers Proklamation, die am Tag des Angriffs von Goebbels verlesen wurde:
"Nationalsozialisten! Ihr habt es einst wohl alle gefühlt, dass dieser Schritt für mich ein bitterer und schwerer war. Niemals hat das deutsche Volk gegen die Völkerschaften Russlands feindselige Gefühle gehegt. Allein seit über zwei Jahrzehnten hat sich die jüdisch-bolschewistische Machthaberschaft von Moskau aus bemüht, nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa in Brand zu stecken. - Heute stehen rund 160 russische Divisionen an unserer Grenze. Seit Wochen finden dauernde Verletzungen dieser Grenze statt, nicht nur bei uns, sondern ebenso im hohen Norden wie in Rumänien. - Damit aber ist nunmehr die Stunde gekommen, in der es notwendig wird, diesem Komplott der jüdisch-angelsächsischen Kriegsanstifter und der ebenso jüdischen Machthaber der bolschewistischen Moskauer Zentrale entgegenzutreten."
So alt diese Präventivkriegsthese also ist, so vielfach ist sie von der Geschichtswissenschaft widerlegt und ins Reich der Verschwörungstheorien verwiesen. Was bestimmte Personen - darunter auch renommierte Historiker wie Joachim Hoffmann, Ernst Nolte und Werner Maser, aber auch einflussreiche Publizisten wie Günther Gillessen von der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" - nicht davon abhält, genau jene These immer wieder zu reproduzieren, mehr oder weniger ignoriert vom Mainstream der Wissenschaft.
Einer aber hat sich dagegen entschieden, zu jener immer wieder aufgewärmten These zu schweigen: Gabriel Gorodetsky. Um es vorweg zu nehmen: Mit seinem Buch "Die große Täuschung. Hitler, Stalin und das Unternehmen 'Barbarossa'", das nun in deutscher Übersetzung vorliegt, revolutioniert Gorodetsky in keiner Weise den bisher gültigen Forschungsstand. Durch eine Fülle von Details und bisher nicht zugänglichen Quellen aus russischen, aber auch britischen, jugoslawischen und bulgarischen Archiven tritt er der Präventivkriegsthese ein weiteres Mal entgegen. Denn die rasseideologischen und strategischen Grundüberzeugungen Hitlers zielten darauf ab, die Sowjetunion früher oder später anzugreifen. Bei diesen Planungen haben sich weder Hitler noch die Generalität auf die Notwendigkeit eines Präventivschlages berufen. Schließlich war der Feldzug gegen die Sowjetunion von Beginn an ein Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg. Die Präventivkriegsthese fällt unter dieser historischen Beweislast a priori in sich zusammen.
Ein Schlüsseldokument der rechtskonservativen Apologetik, dem Gorodetsky sich unter anderem widmet, ist der Vorschlag des Generalstabschefs Schukow vom 15. Mai 1941, dem deutschen Aufmarsch mit einer Gegenoffensive zuvorzukommen. Doch der Autor betont in seiner minutiösen Darstellung: Diese Weisung ist von Stalin nicht einmal paraphiert worden, und Schukow legte schon am nächsten Tag eine zweite Weisung vor, die eine defensive Entfaltung der Roten Armee in Erwartung eines deutschen Angriffs vorsah. Und auch die erste Version von Schukows Plan trug eindeutig defensiven Charakter. Hierin heißt es:
"Da Deutschland die Armee gegenwärtig in vollem Mobilisierungszustand hält und auch das Hinterland umfassend mobilisiert hat, ist es in der Lage, einen Überraschungsangriff gegen uns zu führen. Um das zu verhindern, halte ich es für entscheidend, es dem deutschen Oberkommando auf keinen Fall zu gestatten, die Initiative zu ergreifen. Es gilt, dem Aufmarsch des Gegners zuvorzukommen und die deutsche Armee zu einem Zeitpunkt anzugreifen, da sie sich mitten in der Entfaltung befindet, bevor sie die Front umfassend organisiert und das Vorgehen der einzelnen Kräfte koordiniert hat."
Gorodetskys Hauptanliegen besteht nicht nur darin, die Behauptungen seines Widersachers, des übergelaufenen Geheimdienstoffiziers Victor Suvorov, zu widerlegen, dessen Buch "Der Eisbrecher" dank der "Frankfurter Allgemeinen" auch in Deutschland intensiv rezipiert worden war. Der Autor möchte insgesamt mehr Licht in die Politik Stalins vor Ausbruch des Krieges bringen und die Verengung der Perspektive auf die deutsch-sowjetischen Beziehungen auflösen, indem er das komplexe internationale Interessengeflecht darstellt. Doch was war die Rolle Stalins in diesem "Großen Spiel", wie der es nannte? Gorodetsky charakterisiert sie wie folgt:
"Stalins Herrschaftssystem hatte in der Tat seine ganz eigenen despotischen Methoden. Und doch wäre es falsch, die sowjetische Außenpolitik den Launen eines Tyrannen oder einem ruhelosen, ideologisch geprägten Expansionsdrang zuzuschreiben. Stalins Politik erscheint als durchaus vernünftig und durchdacht, eine skrupellose Realpolitik, die einem klar umrissenen geopolitischen Interesse diente."
Stalins langfristiges Ziel lag in der Wiederherstellung der Großmachtstellung in Europa, die durch die Folgen des Ersten Weltkriegs, der Okoberrevolution 1917 und des Versailler Vertrags zerstört worden war. Und er wählte das Mittel der Diplomatie zur Durchsetzung seiner Politik, weil er wusste, dass die Rote Armee durch seine eigenen brutalen "Säuberungen" schwer gelitten hatte. Deshalb betrieb Stalin gegenüber Hitler-Deutschland eine Art Appeasement-Politik, die freilich vom Aufbau der Roten Armee flankiert war.
Sein vordringliches Ziel aber blieb es nach Ansicht des Autors, die Revolution nach außen abzuschirmen und die Deutschen auf keinen Fall zu provozieren. Er war auch wenig geneigt, sich von den Westmächten in den Krieg hineinziehen zu lassen und für sie, so wörtlich, die "Kastanien" aus dem Feuer zu holen. Selbst als der deutsche Aufmarsch nicht mehr zu verkennen war, beschied Stalin seinen Militärs:
"Wir haben einen Nichtangriffspakt mit Deutschland; Deutschland steckt bis über beide Ohren im Krieg im Westen, und ich bin sicher, dass Hitler es nicht riskieren wird, durch einen Angriff auf die Sowjetunion eine zweite Front zu eröffnen. Hitler ist kein solcher Idiot. - Schlagen Sie vor, die Mobilmachung im Lande auszurufen, die Truppen jetzt zu alarmieren und an die Westgrenze zu schicken? Das bedeutet Krieg!"
Selbst als Schukow Stalin über den deutschen Angriff informierte, schien der immer noch zu glauben, die Wehrmacht sei dabei, ohne Hitlers Billigung einen Krieg zu provozieren. So verbot er der sowjetischen Armee, die Einsatzbefehle voll auszuführen.
Dass der deutsche Überfall Stalin so unvorbereitet traf, ist laut Gorodetsky vor allem darauf zurückzuführen, dass die Sowjetunion keine wirkliche Alternative hatte, das Geschehen zu bestimmen. Denn Stalin habe seine Rote Armee frühestens 1943 für stark genug gehalten, sich mit der deutschen Wehrmacht zu messen. Im Gegenteil: Er habe gehofft, Russland würde den Krieg vermeiden und die Früchte einer Friedenskonferenz ernten können, die er für das Jahr 1941 erwartete.
Diese Passage in Gorodetskys Buch illustriert, dass der Autor den grundsätzlich vorhandenen Expansionswillen Stalins offensichtlich unterschätzt. Kam dieser doch nicht nur in den geheimen Zusatzprotokollen zum Hitler-Stalin-Pakt von 1939 zum Ausdruck, sondern auch in der Annexion des Baltikums, Bessarabiens und der nördlichen Bukowina im Windschatten der Erfolge Hitlers im Westen. Schließlich ist Stalins Hoffnung auf einen Abnutzungskrieg zwischen den kapitalistischen Ländern nicht zu vergessen, aus dem die Sowjetunion als lachender Dritter würde hervorgehen können. Zwar bestimmten primär Sicherheitsbedürfnisse die sowjetische Diplomatie. Zu Stalins flexibler Taktik gehörte aber auch das Streben nach territorialem Gewinn, wo dieser relativ gefahrlos für die eigene Sicherheit zu erreichen war.
Auf der Sollseite des Buches steht neben dieser gewissen Schieflage ein etwas überholtes und fast merkwürdig erscheinendes personenzentriertes Geschichtsbild, das sich durch das ganze Werk zieht. Darüber hinaus fehlt manchmal die große Linie, und die Fülle der Details stiftet oft mehr Verwirrung,als dass sie Klarheit schafft.
Was der Autor ebenfalls nicht deutlich genug macht, ist folgendes: Um die Präventivkriegsthese zu bestätigen, wäre der Nachweis erforderlich, dass die NS-Spitze in Erwartung eines unmittelbar bevorstehenden sowjetischen Angriff gehandelt hat. Es gibt aber keine Quelle, die auch nur den geringsten Ansatzpunkt für eine solche Interpretation eröffnet. Im Gegenteil: Der Kriegskurs Hitlers war völlig autonom.
Bleibt die Frage, ob es sich lohnt, sich so intensiv mit der längst obsoleten Präventivkriegs-These auseinanderzusetzen. So lange aber auch renommierte publizistische Institutionen derlei Thesen verbreiten, bleibt eine Widerlegung des längst Widerlegten und eine Zurückweisung der Versuche, die Geschichte zu instrumentalisieren, immer wieder einmal vonnöten.
Gabriel Gorodetsky: Die große Täuschung. Hitler, Stalin und das Unternehmen "Barbarossa". Veröffentlicht im Siedler Verlag, Berlin, der Band umfasst 512 Seiten und kostet 49,90 DM.