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"Gäbe es keine Kirschblüten". Tanka aus 1300 Jahren. Reclam.

Anders als das dreizeilige Haiku, das sich auch bei uns seit Längerem großer Beliebtheit erfreut, ist das fünfzeilige Tanka, das sogenannte "kurze Lied", hierzulande kaum bekannt, obwohl es die älteste und einflussreichste Gedichtform Japans darstellt. 100 beispielhafte liegen hier vor.

22.12.2009
    Man mag es kaum glauben – es gibt ein Land, dessen Bevölkerung quer durch alle Berufe, alle sozialen Schichten und Altersstufen dichtet. Für sich allein oder als Mitglied in einer der rund 650 landesweiten Tanka-Gesellschaften widmen sich in Japan Hunderttausende der Kunst, ihre Gedanken, Empfindungen und Erlebnisse in die feste Form von 5-7-5-7-7 Silben zu gießen.

    "Kalt ist's heute!"
    Sag ich, und zurück kommt
    "Kalt ist's heute!"
    ... diese Wärme, dass da
    einer ist, der Antwort gibt!"

    ""Es ist tatsächlich so, dass Menschen aus den verschiedenen Berufen, ja, dass alle Arten von Menschen dichten, was in früheren Zeiten so nicht der Fall war. In den Zeitungen und Zeitschriften, auch in Fernseh- oder Radiosendungen gibt es ein Forum, wo man seine Tanka einsenden kann. Bei der 'Asahi Shimbun', der Zeitung mit der größten Tanka-Rubrik, ist es so, dass da drei- bis viertausend Tanka pro Woche reinkommen, aus denen dann von einer Jury die Tanka zur Veröffentlichung ausgewählt werden."

    Anders als das dreizeilige Haiku, das sich auch bei uns seit längerem großer Beliebtheit erfreut, ist das fünfzeilige Tanka, das sogenannte "kurze Lied", hierzulande kaum bekannt, obwohl es die älteste und einflussreichste Gedichtform Japans darstellt. Schon die früheste Gedichtsammlung, das Manyōshū, die "Zehntausend-Blätter-Sammlung" aus dem Jahre 759, enthält über viertausend Tanka. Yukitsuna Sasaki hat für seine Anthologie einhundert Tanka von den Anfängen bis in die Gegenwart ausgesucht. Seine Auswahl umfasst 50 klassische und ebenso viele moderne wie zeitgenössische Gedichte. Angesichts der langen Tradition also eine deutliche Gewichtung zugunsten der Moderne. Angeregt zu einer solchen Auswahl hat ihn die Mitherausgeberin Masami Ono-Feller, die gleichfalls Tanka schreibt.

    "Ich wollte unbedingt eine Anthologie machen aus der 1300-jährigen Tradition von Tanka, und die modernen Tanka sollten auch gleiches Gewicht haben wie die schon bekannten alten, sozusagen die Klassiker. Und unter den modernen wollte ich verschiedene Sachen haben, unter anderem die japanische Vergangenheitsbewältigung und möglichst viele Gedichte von Frauen, weil die modernen Tanka werden von der Zahl her viel mehr von den Frauen eigentlich gedichtet."

    "Tatoeba kimi
    gasatto ochiba
    sukuu yô ni
    watashi o saratte
    itte wa kurenu ka"

    "Wie wäre es, Du!
    Könntest du nicht mal, schwupps
    – wie man nach einem
    fallenden Blatt hascht –
    zupacken und mich entführen?"

    Schwung und frischen Wind, wie er durch dieses in den 70er-Jahren von der 25-jährigen Yūko Kawano geschriebene Tanka weht, haben die modernen Dichterinnen und Dichter immer wieder in den Blätterwald der Tanka hineingebracht, wenn er durch Konventionalisierung und Kanonisierung zu erstarren drohte. Denn es genügt nicht, die Tradition einfach nur weiterzugeben, man muss sie immer auch brechen, damit unverbrauchte Kräfte freigesetzt werden und etwas Neues entstehen kann. Wo noch im späten 18. und beginnenden 19. Jahrhundert Traditionalisten wie Norinaga Motoori einen entschiedenen Klassizismus pflegten, da setzen sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts Dichter wie Nobutsuna Sasaki, der Großvater des Herausgebers, für den Einbezug neueren Wortschatzes, für eine zeitgemäße Ausdrucksweise und eine thematische Ausweitung der Tanka ein und damit auch für die Öffnung der elitären bürgerlichen Tanka-Zirkel für jedermann und jedefrau. "Weit, tief, ein jeder nach seiner Art" – so die Formel, die Nobutsuna Sasaki geprägt hat und der sich auch sein Enkel noch verpflichtet weiß. So tauchen in der Moderne erstmals Tanka mit aktuellen, politischen Zeitbezügen auf. Sogenannte Kriegs- und Atombombengedichte etwa bilden eine eigene thematische Gruppe. Shūji Miya, Sohn eines Buchhändlers und Angestellter einer Stahlfirma, kämpfte vier Jahre im japanisch-chinesischen Krieg. Waren im vormodernen Tanka Krieg und Blutvergießen als Thema undenkbar, macht Shūji Miya den ebenso animalischen wie mechanischen Ablauf des Tötens zum Thema.

    "Heranreißen
    und gleichsam sich anschmiegen
    dann zustechen –
    ohne den geringsten Laut
    zusammenbrechen, daliegen"

    Shinoe Shōda wurde Zeugin des Atombombenabwurfs auf Hiroshima. Sie starb in den 60er-Jahren an dessen Spätfolgen. Ihr Tanka, eins der bekanntesten der Atombombengedichte, stammt aus dem Jahr 1947. Bei einem Arbeitseinsatz in Hiroshima wurde eine ganze Schulklasse im Hypozentrum der Explosion in Sekundenschnelle ausgelöscht.

    "Die großen Knochen
    die sind wohl vom Lehrer
    daneben
    die kleinen Schädelknochen
    scharen sich um ihn"

    Lakonisch klingen die ersten Zeilen – dafür treffen die letzten um so direkter ins Herz. Denn nicht in bedeutungsschweren Gesten greift diese Dichtung aus, sondern sie entfaltet ihre Kraft nahezu unscheinbar und in kleinsten Nuancen, wodurch sie den Dingen viel näher kommt, als sie es mit großen Worten zu erreichen vermöchte. Keine Ideendichtung aus erhabener Höhe hat das Tanka seinen Ursprung in der Mitte des Herzens, also dort, wo die Menschen direkt von den Dingen des Lebens angesprochen und bewegt werden. So finden heutzutage alle Themen und Gemütslagen Eingang in das Tanka – von beruflichem Misserfolg über Eltern-Kind-Beziehung, ertragreiche Ernte, Brustkrebs, naturwissenschaftliche Phänomene bis hin zum "Salat-Gedenktag", dies der Titel eines Gedichtbandes von der gleichfalls in dieser Sammlung aufgenommenen Machi Tawara, der damit Ende der 80er-Jahre ein Millionenbestseller gelang. Auch das beweist, dass das Dichten in Japan keineswegs den bei uns vielzitierten Elfenbeinturm hoch über der Prosa der Welt bewohnt, sondern da stattfindet, wo es hingehört, nämlich inmitten dieser Welt, und sich dort unabtrennbar einer Wirklichkeit verbunden weiß, die wie auch das menschliche Leben dem unaufhörlichen Wandel aller Dinge unterliegt.

    "Riesenrad
    dreh dich nur dreh dich
    Das Erinnern währt
    für dich einen Tag lang
    für mich ein Leben lang"

    Bereits im Vorwort zu der bekannten Gedichtsammlung "Kokinwakashū" aus dem Jahre 905 heißt es: "Was ohne Gewalt anzuwenden, Himmel und Erde bewegt, die Beziehungen zwischen Mann und Frau noch zärtlicher macht und auch das Herz des ungestümen Kriegers besänftigt, das ist das Gedicht." Dies kann der Leser bei der Lektüre dieser 100 Tanka aus 1300 Jahren nun an sich selbst nachprüfen. Der Japanologe Eduard Klopfenstein hat die Gedichte in wahrhaft kongenialer Weise ins Deutsche übertragen und jedes Tanka zudem mit einem Kurzkommentar versehen. Zusammen mit den im Anschluss an die Tanka abgedruckten Kurzbiografien der Dichter und Dichterinnen, die von Masami Ono-Feller zusammengestellt wurden, bildet es eine wertvolle Lese- und Orientierungshilfe durch die reiche und wandlungsfähige Tanka-Tradition, wovon der Leser sich anhand der getroffenen Auswahl ein überzeugendes Bild machen kann, sowie durch die äußerst eindrucksvolle Blütenlese selbst, die diese Anthologie im wahrsten Sinne des Wortes darstellt. Und so ganz nebenbei wird er nach der Lektüre sein mögliches Vorurteil zu korrigieren haben, dass es in Japan immer nur um Kirschblüten geht – auch wenn der Titel dieser Sammlung darauf anspielt. Vollständig lautet dieser Tanka-Klassiker aus dem 9. Jahrhundert –

    "Gäbe es
    keine Kirschblüten
    in dieser Welt
    wie heiter und gelassen
    könnte das Herz im Frühling sein"

    "Ich habe gehört, dass viele Deutsche schon Haiku dichten. Wenn man zum Haiku Zugang gefunden hat, dann, denk ich, wird es nicht schwer sein, auch zum Tanka zu kommen. Und wenn man dann japanische Tanka liest, kann man sich auch Gedanken über eigene, deutsche Tanka machen."

    "Gäbe es keine Kirschblüten". Tanka aus 1300 Jahren. Ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von Yukitsuna Sasaki, Eduard Klopfenstein, Masami Onu-Feller. Reclam Verlag Stuttgart, 2009. 254 Seiten, Euro 12,00