Fast zum Symptom der Mündigkeit wird für Fischer die Fähigkeit des Erlebens bei Bewußtsein, des stellvertretenden Erlebens auch, kurzum: des gespaltenen Bewußtsein, das sich selbst als Erlebenden erlebt. Mitnichten ist ja der Voyeur bzw. die Voyeuse nur der einsame Spanner - er oder sie sieht oftmals Dinge, die die eigene Verarbeitungsfähigkeit übersteigen: eine Lernerfahrung also gewissermaßen, ein Vorschuß an Mündigkeit.
Glück und Genuß wollen gerlernt sein, und Genußfähigkeit lernt in stellvertretender Teilnahme. (Wie Emotionen überhaupt, für die uns oft die Erfahrungsmöglichkeit fehlt: Auch der kleine Junge, der in seinem Baumhaus Robinson Crusoe liest, zittert, wenn die Kannibalen landen. Diese stellvertretende Erfahrung ist gleichsam der Initiationsritus - gleich im doppelten Sinn: als Lusterfahrung und als Mündigkeitsgewinn. Was die Bühne für die deutsche Klassik war: eine moralische Anstalt, auf der man probehandeln, die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten durchspielen konnte, das war vermutlich die Erotik für das 17. und 18 Jahrhundert, zumindest in Frankreich: hier entfalteten sich die höchsten Tugenden und tiefsten Leidenschaften im menschlichen Umgang, Achtung und Fürsorglichkeit gehörten - ideellerweise - ebenso zum erotischen Spiel wie die Risikobereitschaft, das Abenteuer der Gefühle, von der Ekstase bis zur Demütigung. Der Klassiker der sogenannten 'galanten Literatur' (nicht zufällig auch der Lieblingstext dieser Autorin), die programmtisch so betitelte "Thérèse Philosophe" des Marquis d'Argens, spiegelt das ganze gesellschaftliche, emotionale und philosophische Spektrum des Jahrhunderts wider - ein Bildungsroman im Medium der Erotik, ein Stück praktischer Aufklärung gegen die Bevormundung.
Erotik war die exemplarische Erfahrung der Grenzüberschreitung, der Grenzverletzung - der Moral, der Sanktionsdrohung, der Scham, ja der scheinbaren Natur, kurzum: die Erregung des Abenteuers, der Selbstüberschreitung als Akt der Mündigkeit, des Selbstentwurfs, der Selbstgestaltung: welche Sprengkraft liegt in diesen Ansätzen, gerade bei jenen Romanen, die Fischer als modellhaft preist: denn hier wird die sexuelle Aufklärung zum Symbol der Aufklärung an sich - ein Ansatz, der neuerdings von grundsoliden Historikerinnen vertreten wird, Margaret Jacobs aus Princeton, oder Lynn Hunt von der NSSR. Denn mit der Entdeckung der fast gesetzmäßigen Funktionsweise der Natur, sprich: des Körpers, war dieser den Geboten selbsternannter moralischer Autoritäten entzogen, zumal sich trefflich argumentieren ließ, daß Gott den Körper ja entsprechend geschaffen habe - und wer wollte sich vermessen, Gottes Werk zu kritisieren, gar zu verdammen?
Daß diese Aufklärung exemplarisch an Frauen vollzogen wird, sprich: daß die Helden zumeist Heldinnen sind, also die Verkörperung der Natur, macht diese Literatur nicht nur pikant, sondern explosiv. Schon die Entkoppelung von Sexualität und Fortpflanzung bedeutete ein Ausmaß an körperlicher Selbstbestimmung, die zu Zeiten, da erfolgreiche Selbstmörder gleichsam posthum noch einmal rituell bestraft wurden, einen Sprengsatz - ähnlich wohl dem bügerlichen Anspruch auf ökonomische Selbstbestimmung.
Und noch einen Einwand fegt Fischer beiseite: daß die gesamte sogenannte galante Literatur ja von Männern für Männer geschrieben worden sei - zum Beispiel weil: "eine Heldin, die sich selbst nimmt, wen und was sie begehrt" Gefahr läuft, "von einer sehr jungen oder konservativen Leserin als liederliches Frauenzimmer abgelehnt zu werden. Dagegen gibt es ein treffliches Mittel, daß nämlich diese Heldin zu Beginn in vollkommener Unschuld auftritt ... Die reinsten Engelchen sind sie, bis sich ihnen das Geheimnis der Liebe jäh durch den Anblick eines Liebespaares offenbart. Selbst erleben sie den Genuß zunächst nur durch die Hilfe einer Freundin oder der eigenen Hand, bevor ihre Entwicklung voranschreitet. Die jungfräulichste Leserin kann sich mit der Titelfigur identifizieren und ihr zumindest ein Stück auf dem Weg ins Reich der Sinne folgen. So ist man beinahe versucht, dieses weitverbreitete Handlungsmuster als Hinweis auf eine überwiegend weibliche Leserschaft zu deuten.
Ohnehin waren Frauen das erste Publikum für den noch jungen Roman - er bot jenen Erlebnisraum, der ihnen in der Wirklichkeit weithin verwehrt war. Daß sie vor allem in den lateinischen Literaturen zu aktiven Heldinnen wurden, mag die Entwicklung der erotischen Kultur nicht unwesentlich beeinflußt haben. Hierher jedenfalls stammen die meisten von Fischers Beispielen. Entscheidende Neuerungen finden sich freilich gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch anderswo, bei Sacher-Masoch z.B., der als erster, wie sie schreibt, "individualpsychologische Erklärungsmodelle" für sexuelle Vorlieben anbietet. Oder bei Joyce, der - beinahe postmodern - die sexuelle Erfahrung als (im Wortsinn) gleich-gültig mit anderen Erfahrungsformen in den Alltag einholt.
Daß die Rechtsprechung von der Autorin als pornographisch gesehen wird (und nicht das Material, über das Recht gesprochen wird), ist kein Mißverständnis. "Der Skandal beginnt, wenn die Polizei einschreitet, um ihm ein Ende zu machen", höhnte schon Karl Kraus. In diesem Sinne ist der Autorin doch, ganz gegen ihre Absicht, eine kleine Mentalitätsgeschichte der erotischen Literatur des Abendlands gelungen, die, mit weitläufigen und ausgiebigen, kurz und klug kommentierten Beispielen den heutigen Leser lustvoll und lehrreich in den Bauch der europäischen Kultur einführt.