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Galiziens neue Grenze

Roman Czmelyk steht vor dem polnischen Soldatenfriedhof in der ukrainischen Stadt Lwiw, dem einstigen Lemberg. Pantheon nennt der Ethnograph die Anlage mit leicht ironischem Unterton. Und wirklich: Ein bisschen wie ein Tempel wirkt die etwas erhöhte Gedenkhalle schon. Davor erstreckt sich ein Feld von Kreuzen, Ersatzgrabsteine für all jene Polen, die 1918 im Kampf gegen ukrainische Aufständische fielen. Noch strahlen die hellen Steine, die an die toten Soldaten aus dem heutigen Nachbarland erinnern, sauber im Tageslicht. Denn die Anlage ist neu, in den vergangenen Jahren errichtet. Nur eröffnet wurde sie noch nicht. Der ukrainische und der polnische Staatspräsident wollten den Friedhof zwar schon längst einweihen, aber die Stadtverwaltung von Lwiw wehrte sich dagegen.

Sylvie Reichel | 12.02.2004
    Hauptstreitpunkt sei eine Inschrift, erzählt Roman Czmelyk. Die polnischen Nachbarn wollten ihre Toten gern als "Helden" bezeichnen. Die Ukrainer, die heute in der Stadt Lwiw und der Umgebung leben, seien aber dagegen. Denn: Noch hätten sie die alten Konflikte und die wechselvolle Geschichte ihrer Heimat Galizien nicht vergessen.

    Galizien ist geteilt. Der Osten gehört zur Ukraine, der Westen zu Polen. Früher war die Region eins, stand zunächst Jahrhunderte lang unter polnischer dann unter österreichisch-ungarischer Herrschaft. Nach dem Ende des ersten Weltkrieges stritten dann Polen und Ukrainer um Galizien. Die Polen behielten bis 1939 die Oberhand. Dann aber begann der zweite Weltkrieg und veränderte das Leben in der Region grundlegend: Die westliche Hälfte Galiziens wurde nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen gemäß dem Hitler-Stalin-Pakt den deutschen Besatzern im so genannten Generalgouvernement zugeschlagen. In Ostgalizien dagegen rückten sowjetische Truppen ein. Die Rote Armee ließ dort schon nach kurzer Zeit viele Bürger aus der polnischen und ukrainischen Oberschicht in die Lager Sibiriens transportieren. Als dann 1941, nach dem deutschen Überfall auf die UdSSR, in Ostgalizien die Besatzung erneut wechselte, wurde das jüdische Leben durch das Terrorregime von SS, Polizei und deutscher Zivilverwaltung fast vollständig ausgelöscht. Am Ende des Krieges, 1945, war die eine Hälfte Galiziens, der heute ukrainische Teil, dann wieder sowjetisch. Und zwar für immer, wie es damals zunächst schien. Die dort lebenden Polen ließ Moskau deportieren. Die andere, polnische Hälfte Galiziens wurde wieder Warschau unterstellt. Hier mussten die ukrainischen Bewohner ihre Heimat verlassen und wurden zwangsweise in Schlesien oder im ehemaligen Ostpreußen angesiedelt.

    Zwar hat der rege Austausch zwischen Polen und Ukrainern seit der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine 1991 Generationen alte Vorurteile dahinschmelzen lassen. Konfliktfreie Beziehungen gehörten fast schon zum Alltag, sagt die Stadtführerin Nadiya Hrynyk aus Lwiw. Aber die neue EU-Grenze und die Einführung der Visa-Pflicht entferne die Ukrainer nun wieder von den polnischen Nachbarn.

    Ich fühle mich ein bisschen jetzt wirklich wie in einem Kreis eingeschlossen, das heißt, früher war das für mich freier Wille: Ich möchte über das Wochenende nach Krakau. Jetzt muss ich es mir überlegen und alles planen. Ich muss mir ein Visum besorgen usw. Und das ist für mich ein unangenehmes Gefühl. Ich fühlte mich, na was heißt frei, aber ich konnte spontan Entscheidungen treffen, wohin ich reise... Jetzt ist es für mich mehr psychologisches Gefühl. Aus Trotz besorge ich mir das Visum nicht, weil ich hoffe, das wird sich irgendwie noch regeln.

    Nadiya Hrynyk wartet in einer Hotellobby auf ihre nächste Reisegruppe. Als Stadtführerin in Lwiw ist sie unabhängig von den neuen Regeln an der polnischen-ukrainischen Grenze und kann sich deren Boykott leisten. Viele ihrer Landsleute aber stehen Schlange vor den mittlerweile zahlreichen polnischen Konsulaten im Land, weil sie vom grenzüberschreitenden Handel leben.

    Am ersten Mai wird Polen Mitglied der Europäischen Union. Dann verläuft die EU-Außengrenze mitten durch das historische Galizien. Im Oktober vergangenen Jahres hat Warschau bereits mit dem Testbetrieb begonnen. Ukrainer benötigen seitdem ein Visum, um ins Nachbarland zu reisen. Sofort wuchsen vor den polnischen Konsulaten lange Wartereihen. Der rege Verkehr an den Grenzübergängen aber legte sich. Vom "Brüsseler Vorhang" sprechen einige Ukrainer deshalb auch, in Anlehnung an den "Eisernen Vorhang" der Vergangenheit.

    Der Bürgermeister der grenznahen ukrainischen Kleinstadt Drohobyc, Petro Dyminski, wählt weniger dramatische Worte. Sicher tritt er dabei auf und verströmt ein Selbstbewusstsein, als sei Drohobyc immer noch das vergleichsweise bedeutende Industriezentrum aus Sowjetzeiten:

    Verändert hat sich mit dem Beginn des Visa-Systems der Warenaustausch. Er hat erst einmal abgenommen, weil unsere Geschäftsleute noch kein Visum haben, aber dieser Zustand wird nicht lange dauern. Das Problem ist doch, dass der polnische Staat noch nicht bereit war für die neuen Regelungen. Die Infrastruktur fehlte. Es gab hier nur in Lwiw und Kiew Konsulate, wo die Leute hinfahren und drei bis vier Tage warten müssen. Aber das ist alles eine Frage der Zeit. Polen hat schon ein größeres Stück Land in Lwiw gekauft, um ein neues Konsulat aufzubauen. Und dort wird es dann keine Schlangen mehr geben.

    Natürlich, es werde zu einem kurzzeitigen Anstieg der Arbeitslosigkeit kommen, räumt der Bürgermeister ein. Aber bei der aktuellen Quote von fünf Prozent sei das zu verkraften, fügen seine Beamten im Rathaus stolz hinzu. Allerdings geben sie dann doch zu, dass dies nur die offizielle Statistik sei.

    Selbst mitten in der Woche herrscht am frühen Nachmittag reges Treiben auf den Plätzen der ukrainischen Stadt Drohobyc. Die meisten Menschen sind zu Fuß unterwegs, immer auf der Hut vor den wenigen Autos, die vorbeirasen. Mit stoischer Gelassenheit umgehen sie kleine Baustellen, die brach liegen und manchmal metertief gähnende Schlaglöcher auf ihrem Weg.
    Auf dem Marktplatz bettelt eine Roma-Frau mit drei Kindern im Schlepptau. Mit ihrem Ellenbogen stößt sie die Fremden in die Seite und hält die offene Hand hin.

    Inoffiziellen Zahlen zufolge seien bis zu 30 Prozent der Drohobycer arbeitslos, meint der Leiter der ukrainischen St.-Florians-Stiftung, einer Organisation, die sich um sozial schwache Menschen kümmert. Das Rathaus vergesse all jene, die vom täglichen Handel lebten, klagt er während des Mittagessens in einem schummrigen Kellerrestaurant:

    Früher besuchten sie Polen fast jeden Tag, hatten Möglichkeit dort etwas zu kaufen und hier zu verkaufen. Jetzt steht alles und die Leute warten auf Visa. Auch die Bevölkerung neben der Grenze jeden Tag besuchten Polen. Illegal brachten sie Zigaretten nach Polen, Wodka und verkauften gleich hinter der Grenze. Die Leute sollten überleben dieses schwere Leben.

    Sechzig bis siebzig Prozent der Ukrainer in den Orten direkt entlang der polnischen Grenze hätten vom Kleinhandel existiert, schätzt Matsiewski. Jetzt sei ihre Lebensgrundlage weggebrochen.

    Ein Visum kann sich zwar jeder Bürger der Ukraine ausstellen lassen. Für das Dokument selbst zahlt er auch nichts. - Das war die Bedingung der ukrainischen Regierung, damit auch die Polen weiter ohne Visum in die Ukraine kommen dürfen. - Aber die Beschaffung der Papiere kostet: Zuerst die Fahrt zum Konsulat und die Übernachtungskosten - dabei muss jeder, der an der Grenze zu Polen lebt, schon genau überlegen, ob er lieber eine kurze Fahrt und dafür lange Warteschlangen in Kauf nimmt oder lieber weiter ins Landesinnere reist und dafür nur ein oder zwei Tage anstehen muss. Denn je dichter das Konsulat an der polnischen Grenze liegt, desto größer ist der Andrang der Bittsteller. Dazu kommen dann noch kleinere Geldbeträge, zum Beispiel um den Platz in der Schlange zu halten, wenn man sich irgendwann doch einmal schlafen legen will.

    Ohne Visum über die Grenze zu kommen, ist inzwischen kaum mehr möglich. Polen hat die Kontrollen deutlich verstärkt. Und die Zollbeamten schauen genauer hin als früher. Zigaretten und Alkohol dürfen Ukrainer nur noch in den vorgeschriebenen Mengen ausführen.

    Am ukrainisch-polnischen Grenzübergang Medyka ist es ruhig. Zehn, elf Autos und ein Reisebus warten auf die Abfertigung. Es dauert trotzdem eine Weile, bis jeder die Passkontrolle passieren kann. Die Beamten kommen ihrer Pflicht mit demonstrativer Sorgfalt und dementsprechend langsam nach: Ein Blick in den Pass, ein Blick in das Gesicht des Inhabers, ein Blick auf den Computerbildschirm. Eingabe der Ausweisnummer - im Einfingersuchsystem irren die Hände des Beamten vorsichtig über die Tastatur -. Dann Blättern im Pass, noch ein Blick in das Gesicht des Inhabers und schließlich der Stempel.

    Von der Grenze sind es nur einige wenige Kilometer bis in die polnische Kleinstadt Przemysl: In der Hauptgeschäftsstraße reihen sich zwei- bis dreigeschossige Häuser aneinander, einige grau, andere renoviert. Viele Kirchen prägen Przemysl und der große, rechteckige, von Renaissance-Gebäuden umsäumte Marktplatz. Der Stadtpräsident, Robert Choma, ist stolz auf seine kleine Grenzmetropole, auch wenn die schon durchaus bessere Tage gesehen hat. Als Przemysl noch die Hauptstadt des Bezirks, der so genannten Wojewodschaft, gewesen sei, habe die Stadtverwaltung so viel Geld zur Verfügung gehabt, dass sie selbst Akzente setzen konnte bei den Ausgaben. Heute werde nur noch das Nötigste bezahlt, zumal die Verschiebung der EU-Außengrenze die Situation nochmals verschlechtere, sagt Choma.

    Wenn man schaut, wie sich die Visa-Regelungen auf die Stadtverwaltung auswirken, dann sind da zunächst die Einbußen bei den Steuern zu nennen. Die Gebühren zum Beispiel für die Marktstände und Handelsplätze tragen normalerweise dazu bei, unser Haushaltsvolumen zu vergrößern. Auf der anderen Seite besteht natürlich ein Problem darin, dass eine große Zahl von Menschen in den Grauzonen der Schattenwirtschaft arbeiten. Wenn ich jetzt unterwegs bin, sehe ich auf beiden Seiten der Grenze leere Plätze - dort, wo einst Verkäufer standen. Die Parkplätze sind nahezu leer, genau wie die Grenzübergänge. Und dann ist klar, was im Inneren der Leute vorgehen muss, die dort ihre Lebensgrundlage hatten.

    In Przemysl und anderen polnischen Orten in der Nähe der Grenze waren viele Gasthäuser und Lebensmittelläden ganz auf die Bedürfnisse der Ukrainer zugeschnitten. Dass jetzt nur noch wenige Nachbarn über die Grenze kommen, treibt viele Kleinunternehmer in den Ruin. Und das alles nur, weil Polen bald zur Europäischen Union gehören möchte. Viele Bürger seien deshalb frustriert, sagt Stadtpräsident Choma. Die Zustimmung für den EU-Beitritt Polens falle hier, in seiner Gegend, dementsprechend gering aus. Diesen Trend ändern könnten wohl nur positive Erfahrungen - so wie bei diesem Beispiel:

    Ein altes verfallenes Bürogebäude in unserer Stadt wurde für die neue Zollverwaltung hergerichtet, mit Parkplätzen und allem, was dazu gehört. Mit den dazu notwendigen Bauarbeiten wurden Przemysler Firmen beauftragt. Und da merkten die an diesem ganz konkreten Fall, da passiert etwas für uns, was wir uns vielleicht vorher gar nicht so vorgestellt hatten. Das ist ein gutes Beispiel.
    Die Folgen der neuen EU-Außengrenze sind in den betroffenen Regionen jenseits der Europäischen Union wesentlich schwieriger auszugleichen. Die dazu notwendigen finanziellen Mittel fehlen so gut wie völlig. Noch, meint optimistisch der Bürgermeister Dyminsky aus der westukrainischen Stadt Drohobyc und hat auch gleich eine Lösung parat:

    Unsere ukrainische Nation orientiert sich am Westen und strebt (ebenfalls) in die Europäische Union. Unsere Delegationen sind oft bei den Polen und lernen dort von deren Arbeit und Entwicklung. Wir wissen, dass der Kontrast noch groß ist zwischen der Ukraine und Polen. Aber wir bemühen uns um eine bessere Infrastruktur, damit die Unterschiede zu den EU-Ländern schwinden.

    Petro Dyminsky vertritt eine Position, die besonders typisch für den Westen der Ukraine ist, gerade auch für die Region Galizien. Immer wieder betonen Politiker und Wissenschaftler dort, wie europäisch ihre Heimat doch sei.

    Die offizielle politische Orientierung der Ukraine ist aber durchaus schwieriger einzuschätzen. Der stellvertretende Außenminister Polens, Andrzej Zaluski, sagt zum Beispiel, er würde eine ukrainische Delegation nie fragen, ob ihr Land in die EU wolle, weil sie ihm doch keine richtige Antwort darauf geben könne. Der ukrainische Staatspräsident, Leonid Kutschma, hat zwar offiziell verkündet, sein Ziel sei eine engere Kooperation mit Brüssel und am Ende auch der EU-Beitritt.
    Im Juni 1998 erließ er sogar ein Dekret, das den Weg nach Westen ebnen sollte. Aber seine praktische Politik führt oft in die genau entgegengesetzte Richtung, zu einer engeren Kooperation mit Russland. Zumal der stärker industrialisierte Osten der Ukraine, der wirtschaftlich immer noch effektivere Teil des Landes, sich sowieso stark an Moskau orientiert. Im Westen der Ukraine dagegen, im alten Galizien mit Lwiw als Zentrum, betonen viele der Befragten ihr Ukrainertum.
    Die Unabhängigkeit von Moskau und die Eigenstaatlichkeit bedeutet den Westukrainern viel. Um ihre nationale Souveränität zu bewahren und nicht wieder von den Armen Russlands umschlungen zu werden, sind es vor allem sie, die eine Annäherung an die Europäische Union befürworten. Die meisten sind überzeugt davon, dass auch die EU selbst ein Interesse an der Ukraine hat. Besonders Polen wird immer wieder als schon jetzt engagierter Anwalt für einen EU-Beitritt der Ukraine genannt.

    Die Regierung dort wirkt zurückhaltend. Dass die Ukraine unabhängig bleibe, das wünsche sich Polen schon, bestätigt der stellvertretende Außenminister in Warschau, Zaluski. Aber was die aktive, polnische Unterstützung der Ukraine auf ihrem Weg in die EU betrifft, gibt er sich zurückhaltender.

    In Europa, ja in der ganzen Welt wird immer von Polen als Anwalt der Ukrainer gesprochen. Wir selbst aber würden uns nicht als Anwalt bezeichnen, sondern höchstens als Befürworter. - Warum? Der Grund ist einfach. Ein Anwalt braucht einen Klienten. Deswegen möchten wir die ukrainischen Anliegen eher befürworten. Und auf der anderen Seite sagen wir unseren ukrainischen Partnern ganz ehrlich, sie müssen ihre Hausaufgaben selbst machen.

    Die Ukraine müsse erst ihre politischen, wirtschaftlichen und rechtsstatlichen Reformvorhaben beschleunigen, bevor die Europäische Union sich zu Verhandlungen über einen Beitritt des Landes bereit erkläre - so lautete dann auch die Bilanz des EU-Ukraine-Gipfels im Herbst des vergangenen Jahres. Der damals amtierende Ratspräsident der Gemeinschaft, der italienische Regierungschef Berlusconi, attestierte der Ukraine zwar, sie sei ein europäisches Land und sollte eines Tages EU-Mitglied werden. Aber dass das Land noch lange auf diesen Tag warten muss, war allen Beteiligten bei diesen Worten genauso klar.

    Die ukrainischen Oppositionskräfte, vor allem im Westen des Landes, sind von der Haltung der Europäer enttäuscht. Statt von Berlusconi hätten sie sich viel mehr aufmunternde Worte von EU-Kommissionspräsident Prodi gewünscht. Der habe in Brüssel wenigstens Gewicht. Nun aber heißt es, weiter abwarten und die Partner von den Vorteilen eines EU-Beitritts der Ukraine überzeugen. Doch leicht wird dies nicht sein, weil selbst die Polen zurückhaltender gegenüber Kiew geworden ist. Die Bedingungen für weitere Gespräche sind klar definiert. Der polnische Vize-Außenminister Zaluski:

    Ein Dialog ist nur sinnvoll, wenn man mit dem Partner offen umgeht. Wir möchten auch über schwierige Themen reden. Etwas zu verschweigen, das führt uns zu gar nichts und deswegen versuchen wir es ihnen bewusst zu machen, dass man Europäer sein muss, wenn man in die EU will. Nicht allein in Warschau, Berlin, Paris oder Brüssel, sondern auch in Kiew, Charkiv oder Danjetzk, auch wenn das manchmal schwieriger ist.

    Die meisten politischen Beobachter sind sich einig:, Mit Präsident Kutschma an der Spitze wird die Ukraine kaum ihre europäischen Hausaufgaben erledigen. Im Herbst können die Bürger des Landes zwar ein neues Staatsoberhaupt wählen, aber der Weg für eine dritte Amtszeit Kutschmas ist bereits freigeräumt.
    Die Verfassung von 1996 erlaubt jedem Staatspräsidenten maximal nur zwei Amtsperioden für jeweils fünf Jahre. Doch das Oberste Gericht in Kiew genehmigte Ende Dezember, als in Europa und Amerika schläfrige Weihnachtsruhe eingekehrt war, eine Ausnahme. Kutschma - so hieß es in der höchstrichterlichen Entscheidung - sei bereits 1994 zum Staatsoberhaupt gewählt worden, zwei Jahre also, bevor die jetzt geltende Verfassung in Kraft getreten sei. Deshalb werde ihm die erste Amtszeit nicht angerechnet. Der Weg zu einer dritten Runde der Kutschma-Ära ist damit - zumindest juristisch - frei.

    Zwar hat der Staatschef bereits mehrmals erklärt, er werde gar nicht kandidieren. Aber die Opposition traut ihm nicht. Sollte Kutschma oder einer seiner Günstlinge die Wahlen gewinnen, so Bohdan Hud`, der Direktor des Instituts für Europäische Integration in Lwiw, bleibe die politische Ausrichtung des Landes vermutlich weiter in der Schwebe. Eine eindeutige Positionierung der Ukraine könne daher nur der Westen selbst bewirken, meint Hud`.

    Wir können uns zwei Varianten vorstellen. Entweder erhält die Ukraine politische Unterstützung von der Europäischen Union und ist damit in diese Gemeinschaft mit einbezogen. Oder die Ukraine bekommt, nachdem sie jetzt die Amerikaner im Irak unterstützt hat, Hilfe von den USA, zum Beispiel auch um der NATO beitreten zu können. Das würde ja eine Aufwertung der eigenen Kräfte gegenüber Russland bedeuten. Aber dann gibt es auch noch eine dritte Variante. Wenn sich keiner im Westen zur Hilfe entschließen kann, dann sehe ich ganz klar, dass die Ukraine wieder zu Russland zählen wird.
    Das zuletzt genannte Szenario würde für Galizien, diese zum Teil in der Ukraine, zum Teil in Polen gelegene Region bedeuten, dass es wieder mit einer stark bewachten Grenze und einer rigiden Visumspflicht leben lernen muss. Gleichgültig, wie europäisch sich die Ukrainer rund um Lwiw auch fühlen mögen, sie säßen vor Europas Tür.