Wie nur wenige Völker der Erde, etwa die Juden oder die Zigeuner, haben die Mongolen unter der Last der Vorurteile zu leiden, die ihnen ihre Nachbarn entgegenbringen. Vom christlichen Abendland über den islamischen Kulturkreis bis nach Vietnam, China und Japan gelten die Mongolen als grausam, ungeschlacht und heimtückisch. Nur Indien bildet eine Ausnahme. Dort stehen die Großmogulen, die mongolischen Kaiser und Maharadschas, die dem Subkontinent während ihrer vierhundertjährigen weisen und toleranten Herrschaft eine Epoche des Friedens und der Wohlfahrt beschieden haben, bis heute im Ruf höchster ritterlicher Tugenden.
Die Gründe dafür sind in der Geschichte zu suchen. Im 13. und 14. Jahrhundert hatte das kaum mehr als 300.000 Nomaden zählende Reitervolk aus dem Inneren Asiens unter Dschingis Khan und Tamerlan ein Weltreich errichtet, das zumindest in seiner geografischen Ausdehnung bis heute unübertroffen ist. Es reichte von Westrussland über den Mittleren Orient bis nach Indien und China und hat ein halbes Jahrtausend vor dem europäischen Kolonialismus Nord und Süd, Orient und Okzident miteinander verbunden. Doch nach anderthalb Jahrhunderten war die Kraft des Reitervolks erschöpft. Die Innere Mongolei fiel in eine Art Dornröschenschlaf zurück, aus dem sie nicht einmal der Kommunismus wachrütteln konnte. Das Land lag eingeklemmt zwischen Russland und China, und die Rivalitäten zwischen beiden Mächten schützte die Mongolen vor allzu radikalen Eingriffen der einen oder anderen Seite.
Aus eben dieser Mongolei, aus der seit den Forschungs- und Reiseberichten Sven Hedins fast nur noch Geheimdienstler etwas zu melden hatten, stammt einer der eigenwilligsten Schriftsteller der zeitgenössischen Weltliteratur, der Altai-Mongole Galsan Tschinag, der, erstaunlich genug, die meisten seiner Bücher auf Deutsch schreibt. Der Autor ist Anfang der vierziger Jahre, so genau kann er das nicht sagen, im Hochgebirge des Altai in der Westmongolei zur Welt gekommen. Seine Geburts- und Wohnstätte ist eine Jurte, und seine erste Lehrerin ist eine Schamanin. Die Einsamkeit der Bergsteppen, die Kargheit des Nomadenlebens und die mündlich weitergegebenen Epen und Gesänge seines Volkes, die vom Tatenruhm der mongolischen Welteroberer künden, bestimmen seinen Weg ins Leben. Erst spät lernt er lesen und schreiben.
Nach dem Abschluss der Zehnklassenschule schlägt er das Angebot aus, in Moskau zu studieren, und bewirbt sich um einen der raren Studienplätze im äußersten Westen des Ostblocks, in der ehemaligen DDR. An der Leipziger Universität lernt er Deutsch und beginnt ein Germanistik-Studium. Er schreibt seine ersten Gedichte auf Deutsch und lernt Erwin Strittmatter kennen, der ihn fördert und zum Geschichtenerzählen ermutigt.
1968 geht er in die Mongolei und lehrt an der Universität in Ulan-Bator Deutsch, bis er 1976 wegen politischer Unzuverlässigkeit entlassen wird. Er schlägt sich als Übersetzer und Journalist durch. 1981 erscheint im Ostberliner Verlag Volk und Welt auf Deutsch sein erstes Buch: "Eine tuwinische Geschichte und andere Erzählungen". Es entstehen in dichter Folge Erzählungen, Romane und Lyrikbände, die auch im Westen erfolgreich sind und mittlerweile in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Für seine Erzählungen "Im Land der zornigen Winde" und "Das Ende des Liedes" erhielt Galsan Tschinag den Adalbert-von-Chamisso-Preis, die höchste deutsche, von der Bayerischen Akademie der Künste verliehene Auszeichnung für Autoren nichtdeutscher Herkunft.
1995 erfüllt sich Galsan Tschinag einen Traum. Über zweitausend Kilometer führt er die Tuwa-Nomaden, die in den sechziger Jahren zwangsumgesiedelt wurden und durch Lagerunterbringung zur Sesshaftigkeit umerzogen werden sollten, in ihre angestammte Heimat im Altai zurück. Seither unterstützt er verschiedene Hilfsprojekte, die den Nomaden das Überleben ermöglichen sollen. So gründete er den Verein "Freunde des Altai", um seinen Landsleuten zu helfen, die in den Kältewintern der Jahre 2000 und 2001 mehr als zwei Drittel ihres Viehbestandes verloren haben.
Das jüngste Buch von Galsan Tschinag trägt den Titel "Der Wolf und die Hündin". Darin wird auf eine ebenso beklemmende wie mitreißende Weise erzählt, wie sich ein alter Wolf und eine entlaufene Hündin zusammentun, um gemeinsam auf die Jagd zu gehen. Sie werden ein Paar, die Hündin ist hochträchtig. Sie hetzen und reißen ein junges Pferd, das ihnen buchstäblich die letzten Kräfte abverlangt. Weil sie auf das falsche Pferd gesetzt haben, werden sie nun von den Jägern und den Schamanen verfolgt. Es wird eine lange und qualvolle Flucht, die, beide wissen es, nur im Himmel der Wölfe enden kann.
Bei aller Detailgenauigkeit der Naturbeobachtung geht es dem Autor sicher nicht um eine bloße Tiergeschichte. Mehrere Bedeutungsebenen überlagern und durchdringen sich. Der Wolf verkörpert das Nomadenwesen, die Hündin die Anpassung an die Normen der Sesshaftigkeit. Die atemlose Hetzjagd des Wolfes wird zu einem Gleichnis für den aussichtslosen Überlebenskampf der letzten Nomaden.
Galsan Tschinag stellt Tiere und Menschen als ebenbürtig dar. Die Tiere sind keine Unschuldslämmer und Kuschelbären, sie werden nicht vermenschlicht und nicht verniedlicht. Der Mensch lebt als Nomade auf gleicher Stufe mit ihnen. Er wird, wenn er jagt und Fleisch verzehrt, selber zum Raubtier. Doch Tschinag richtet nicht, weder über Mensch noch Tier, er macht nur auf die animalischen Anteile aufmerksam, die jeder Mensch in sich trägt.
Meisterhaft versteht er es, sich in die Wahrnehmung von Wölfen und Hunden, von Pferden und Kühen hineinzuversetzen. Er beschreibt die Ödnis der steinigen Steppen aus dem Blickwinkel eines Wolfes, nah am Boden, mit offenen Ohren und Nüstern, sensibel für die feinsten Gerüche und Geräusche. Naturromantik, Folklore und Exotik sind Galsan Tschinag fremd. Stärker noch als Tschingis Aitmatow, sein kirgisischer Lehrmeister, verlässt er sich auf die unmittelbare Naturerfahrung der Nomaden. Er beschreibt die natürlichsten Phänomene, Morgen und Abend, Dürre und Regen, Kälte und Wärme als schamanistische und wetterleuchtende Geheimnisse, als rätselhaft und wunderbar.
So gelingt es ihm nicht nur, der untergehenden Nomadenkultur des Altai-Volkes ein bleibendes poetisches Denkmal zu setzen. Galsan Tschinags Parabel aus der Inneren Mongolei lässt sich ebenso gut global verstehen, führt sie uns doch vor Augen, wie sehr wir immer noch von den Wolfsgesetzen in uns gelenkt werden, auch wenn wir uns verhaltensmäßig in zahme Hunde verwandelt und unsere Jurten mit Hochhäusern vertauscht haben.