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Gar nicht schmeichelhaft

Groß waren bei den Sozialdemokraten vor anderthalb Jahrzehnten, nach den ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen, Schock und vor allem Verständnislosigkeit: Helmut Kohl und die Union waren einmal mehr die Sieger. Die SPD dagegen wurde vom Wahlvolk, gerade im Osten, eiskalt abgestraft. Völlig grundlos? Daniel F. Sturm hat sich für diese Frage interessiert und macht mit dem soeben veröffentlichten Titel "Uneinig in die Einheit – Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989/90" auf sich aufmerksam.

Von Hermann Vinke |
    Als im Sommer 1990 die Lastwagen der westdeutschen Landeszentralbanken mit den Geldscheinen und Münzen bereits in Richtung Osten unterwegs sind, diskutiert die SPD noch immer über das Für und Wider der Wirtschafts- und Währungsunion. Die Einführung der D-Mark in der noch existierenden DDR steht unmittelbar bevor, und wieder einmal ist die Opposition im Deutschen Bundestag uneins, wie sie dazu stehen soll.

    "Uneinig in die Einheit. Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989/90" - das Buch von Daniel Sturm ist streckenweise so geschrieben, als sei beim Einigungsprozess von Anfang an alles klar gewesen. So war es nicht. Dem unbändigen Wunsch der Menschen im Osten nach Freiheit standen in der Bundesrepublik Ängste und Unsicherheiten gegenüber.

    Aber dies ist auch schon fast der einzige Einwand. Ansonsten handelt es sich um eine verdienstvolle Arbeit. Daniel Sturm, Redakteur der Tageszeitung "Die Welt", hat vielfältiges Material analysiert und die meisten Akteure von damals befragt. Das Ergebnis seiner Recherchen ist für die älteste Partei Deutschlands alles andere als schmeichelhaft. Denn die SPD, die in den 1970er Jahren mit ihrer hart umkämpften Ostpolitik die Einheit weitsichtig vorbereitete, befindet sich 1989 und 1990 nicht auf der Höhe der Zeit. Im Gegenteil. Sie ist in sich zerrissen und erweist sich als unfähig, auf eine historische Herausforderung angemessen zu reagieren.

    Natürlich werden nicht nur Sozialdemokraten von den Ereignissen überrollt. Auch die CDU/CSU, die mit Helmut Kohl den Kanzler stellt, ist tief verunsichert. Aber Kohl sieht den historischen Moment und macht ihn zum Maßstab seines Handelns. In der SPD erkennen nur wenige Politiker, dass der Zerfall des Ostblocks den Deutschen ungeahnte Perspektiven eröffnet, dass ferner in der DDR eine friedliche Revolution stattfindet, die jede Unterstützung verdient. Der damalige SPD-Ehrenvorsitzende Willy Brandt gehört zu diesen Wenigen:

    "Es wird nichts wieder so, wie es einmal war. Das gilt zunächst einmal für die Verhältnisse in der DDR. Dort wird nichts wieder so, wie es war. Aber jedenfalls sind wir nahe an einem Punkt, an dem man sagen kann, die Teile Deutschlands, die Menschen im gespaltenen Deutschland werden wieder zusammenkommen."

    Am 10. November 1989, einen Tag nach dem Fall der Berliner Mauer, ist Brandt tief bewegt, als er am Rande einer Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus zu Reportern spricht. Er erinnert an eine Kundgebung am selben Ort im August 1961 nach dem Bau der Mauer. Damals habe man seinen Zorn, seine Ohnmacht herausgeschrieen. Und jetzt?

    "Jetzt sind wir in einer Situation, in der wieder zusammenwächst, was zusammengehört. Das gilt für Europa im Ganzen. Die Winde der Veränderung, die über Europa ziehen, konnten nicht an Deutschland vorbeiziehen."

    Die Winde der Veränderung, sie treiben Sozialdemokraten in alle möglichen Richtungen. Am Tag nach dem Mauerfall sind nur Brandt und der SPD-Vorsitzende Hans Jochen Vogel nach Berlin gekommen. Als die Welt auf Deutschland blickt und den Atem anhält, feiern die jüngeren Spitzenpolitiker, die so genannten Enkel Brandts, irgendwo im Westen den 50. Geburtstag von Björn Engholm. Willy Brandt ist längst nicht mehr die SPD. Um sein Erbe rangeln sich neben Engholm vor allem Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder und Heidemarie Wieczorek-Zeul. Sie belächeln Brandt mit seinen Emotionen und gehen in der Deutschlandpolitik ihre eigenen Wege.

    Die DDR kennen sie hauptsächlich aus Gesprächen mit der SED-Führung. Und daran wollen sie unbedingt festhalten, selbst dann noch, als die alte Garde in Ostberlin jede Reform verweigert und völlig ins Abseits gerät. Aus der Distanz von eineinhalb Jahrzehnten wirkt es peinlich, wenn in dieser Phase führende Sozialdemokraten um einen Fototermin bei Honecker buhlen, die Demonstranten in Berlin, Leipzig oder Dresden jedoch keines Blickes würdigen.

    Lediglich eine Minderheit von SPD-Politikern unterstützt die Opposition gegen das SED-Regime, darunter die SDP, die Sozialdemokratische Partei in der DDR, vorbehaltlos. Die Bundestagsabgeordneten Norbert Gansel, Freimut Duve und Gert Weisskirchen zählen dazu, auch Johannes Rau, der spätere Bundespräsident. Rau tut das Naheliegende; er macht sich auf den Weg nach Ostdeutschland, hört den Menschen zu und bildet sich sein Urteil. An der Spitze der SPD versucht derweil Hans-Jochen Vogel, die Gegensätze zu kaschieren.

    "Reform und Veränderungsbedarf gibt es nicht nur in der DDR. Reform und Veränderungsbedarf gibt es auch bei uns und in dem neuen Deutschland."

    Mit solchen Formeln kommt Vogel zwar der Stimmung eines Teils der westdeutschen Bevölkerung entgegen, aber sie werden der dramatischen Lage in Deutschland nicht annähernd gerecht. - Wer zu spät kommt, den bestrafen die Wähler: Die SPD Ostdeutschlands erfährt dies bereits bei der ersten und letzten freien Volkskammerwahl, bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl Anfang Dezember 1990 werden die Sozialdemokraten dann regelrecht abgestraft. Die Verantwortung dafür trägt nicht zuletzt ihr Kanzlerkandidat Lafontaine:

    "Die Bekämpfung des Hungers, die Bekämpfung der ökologischen Zerstörung, die Abwendung der atomaren Drohung, die Bekämpfung des Wettrüstens, die Herstellung der sozialen Gerechtigkeit - diese großen Aufgaben der Menschheit sind nur international zu lösen."

    Alles erwarten die Menschen in Ostdeutschland im Wahlkampf vom Herausforderer Kohls, nur keine Aufzählung der Probleme der Menschheit, auch keine Belehrungen:

    "Das Problem ist natürlich, das müssen Sie einfach sehen, je schneller die Löhne nach oben gehen, desto größer die Schwierigkeiten bestehen, die Betriebe, die also nicht sehr rentabel sind, zu erhalten. Das ist die Wahrheit."

    In manchem behält Lafontaine Recht, vor allem was die Kosten der Einheit angeht. Aber den historischen Moment, den es zu gestalten galt, hat er nicht gesehen, auch nicht den nur allzu berechtigten Wunsch der Bevölkerung nach einem Ende der SED-Diktatur. In Wirklichkeit waren ihm die Menschen dort ziemlich gleichgültig. Dies und manches andere im Detail deutlich zu machen, ist das Verdienst von Daniel Sturm. Am Ende wirkt das Buch wie ein Lehrstück politischen Versagens in einer historisch hoffnungsvollen Zeit.

    Daniel F. Sturm: Uneinig in die Einheit. Erschienen im Dietz-Verlag, Bonn. 520 Seiten - für 29,90 Euro.