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Gaza-Streifen schlittert "sehenden Auges in die Katastrophe"

Vor einem Jahr beschossen sich Israel und die Hamas, der Gaza-Streifen wurde binnen kurzer Zeit in weiten Teilen zerstört. Von Wiederaufbau könne trotz internationaler Hilfe keine Rede sein, kritisiert Tsafrir Cohen - und gibt Israel einen Teil der Schuld.

23.12.2009
    Stefan Heinlein: Der Beginn des Gaza-Krieges vor einem Jahr, kein friedliches Weihnachten 2008. Die Welt war geschockt. Zuerst fielen die Bomben, dann folgte ein blutiger Häuserkampf. Ziel der Operation "gegossenes Blei" war die Vernichtung der Hamas. Die fast täglichen Raketenangriffe auf israelische Siedlungen sollten gestoppt werden. Doch unter den 1400 Toten waren viele Zivilisten, Frauen und Kinder. Ein UN-Untersuchungsbericht sprach später offen von Kriegsverbrechen der israelischen Soldaten. Die Wunden des dreiwöchigen Krieges sind bis heute sichtbar. Nur wenige Häuser, Straßen und Schulen sind wiederhergestellt. Die israelische Blockade verhindert den Beginn des Wiederaufbaus. Die meisten Familien leben ohne Hoffnung auf bessere Zeiten. – Darüber möchte ich jetzt sprechen mit Tsafrir Cohen, Repräsentant der Hilfs- und Menschenrechtsorganisation Medico International in Ramallah. Guten Morgen, Herr Cohen.

    Tsafrir Cohen: Schönen guten Morgen!

    Heimlein: Herr Cohen, beschreiben Sie uns die Situation im Gaza-Streifen ein Jahr nach Beginn des Krieges.

    Cohen: Wissen Sie, ich konnte mir das nicht vorstellen. Letztes Jahr war ich hier, als die Angriffe angefangen haben. Es sind sehr viele Menschen gestorben, die Situation war furchtbar. Wir stehen jetzt, ein Jahr später, und ich hatte mir das damals nicht vorstellen können, dass bis heute von den 100.000 Menschen, die ihr Obdach verloren haben, 20.000 noch immer nicht zurückkehren können, das, obwohl die Weltgemeinschaft vier Milliarden Dollar versprochen hatte, um den Wiederaufbau vorwärts zu bringen.

    Heinlein: Wie funktioniert vor Ort die Versorgung mit Strom und Wasser? Es gibt auch Berichte, das Gesundheitssystem stehe kurz vor dem Kollaps.

    Cohen: Das Gesundheitssystem, da sind wir ja Experten, steht vor dem Kollaps, stand schon Jahre vor dem Kollaps. Das muss man sich so vorstellen: Der Gaza-Streifen war Teil und ist nach wie vor ein besetztes Territorium von Israel und wurde sehr viele Jahre, 40 Jahre lang vernachlässigt. Davor war es auch nicht gut. Seit 1993 wurde der Gaza-Streifen nach und nach blockiert. Es wurde nicht blockiert wie die heutige Blockade, aber es wurde zu einer Enklave, zu einer vernachlässigten Enklave. Vor 30 Monaten kam die Komplettblockade des Gaza-Streifens. Das war die israelische Reaktion auf die Machtübernahme der Hamas dort. Dann wurde der Gaza-Streifen vor einem Jahr attackiert, 1400 Menschen starben. Davor stand dieses Gesundheitssystem schon vor der Implosion. Die Gesundheitsdienste waren nicht in der Lage, auf diese große Attacke zu reagieren. Die Menschen mussten eigentlich rausgehen, um behandelt zu werden, nur durften sie nicht raus. Die gesamte Bevölkerung von Gaza, 1,5 Millionen Menschen, darunter 50 Prozent Kinder, war dort eingesperrt und sie ist bis heute dort eingesperrt. Wir können Medikamente dort reinbringen, aber sie können die Ärzte zum Beispiel nicht zu Kursen bringen, sie können ganz viele Geräte nicht hinbringen. Wenn wir zum Beispiel versuchen, Gesundheitsprodukte, die nicht Medikamente sind, dort reinzubringen, dann dauert es in der Regel 68 Tage, bis wir die reinbekommen. Das ist eine unhaltbare Situation. Israel verhindert auch die Einfuhr von Kraftstoffen. Das bedeutet, dass es Stromausfälle gibt. Das hat wieder mal Rückwirkungen auf das Abwassersystem. Das kontaminiert das ganze Wasser. Das Ganze ist eine absolute Katastrophe und von einem Wiederaufbau kann heute keine Rede sein.

    Heinlein: Eine absolute Katastrophe, sagen Sie. Will Israel bewusst diese Katastrophe anheizen? Steckt dahinter eine politische Strategie?

    Cohen: Ja. Israel hat ganz klar gesagt, keine humanitäre Krise, keine Entwicklung, keine Erholung. Daher dürfen Medikamente rein. Die meisten Menschen hungern ja nicht im Gaza-Streifen, aber sind von Hilfe von außen abhängig. Dadurch, dass sie überhaupt nichts exportieren können seit 30 Monaten, dadurch, dass der Menschenverkehr, Grenzverkehr, Warenverkehr verboten ist, kann natürlich da kein Wirtschaften funktionieren und deshalb sind die Menschen von Hilfe von außen abhängig.

    Heinlein: Schwächt oder stärkt diese Blockade die Hamas im Gaza-Streifen?

    Cohen: Das weiß ich nicht, das ist unterschiedlich. Manchmal wirkt das bestärkend auf die, manchmal umgekehrt. Das Problem liegt da, glaube ich, woanders. Wir haben vor 10, 15 Jahren gesagt, die Hamas ist ganz gefährlich, wir müssen unbedingt mit der PLO sprechen. Ich fürchte, dass wir in zehn Jahren sagen werden, die Hamas war die realpolitische Alternative. Wir werden noch radikalere Personen dort haben. Die Situation ist so, dass die Radikalisierung vorherzusehen ist, und das ist das Furchtbare, dass wir sehenden Auges in die Katastrophe reinschreiten.

    Heinlein: Aber, Herr Cohen, laut Umfragen ist die Zustimmung für die Hamas dramatisch gesunken. Diese israelische Strategie der Schwächung der Hamas scheint aufzugehen?

    Cohen: Ich glaube nicht, dass die Hamas jemals besonders stark gewesen ist. Viele Leute, die die Hamas bei den letzten Wahlen gewählt haben, haben die Hamas als Protest gegen Korruption der PLO und gegen die Unfähigkeit der PLO, der palästinensischen Autonomiebehörde gewählt, nach 16 Jahren Verhandlungen irgendeinen Vorteil für die Palästinenser herzuholen. Was die Palästinenser seit 1993 erlebt haben ist, dass sie in immer dichter gedrängte Enklaven verdrängt werden von den Israelis und dass die Autonomiebehörde nach und nach zu einem Handlanger der Israelis wird. Das ist auch der Grund, warum die Menschen Hamas gewählt haben. Ich gehe davon aus, dass es etwa 20 Prozent gibt, die Hamas-Anhänger sind. Das ist viel mehr als vor zehn Jahren. Aber für mich stellt eine viel größere Gefahr dar die Tatsache, dass es heutzutage mittlerweile eher el-Kaida-Leute im Gaza-Streifen gibt, die auch jetzt plötzlich Anhänger haben. Das war undenkbar gewesen vor 10 Jahren und das ist eine reine Katastrophe und das ist schädlich für Israel, das ist schädlich für die Palästinenser, das ist schädlich für die gesamte Welt.

    Heinlein: Dennoch, Herr Cohen, militärisch zumindest, blickt man auf die absoluten Zahlen, ist dieser Krieg und diese Blockade ein Erfolg für Israel, denn der Raketenterror der Hamas ist mehr oder weniger gestoppt. Also hat sich am Ende dieser Krieg, diese Blockade für Israel doch ausgezahlt.

    Cohen: Ja. Kurzfristig hat es vielleicht was genutzt. Das glaube ich aber nicht. Die Situation in den besetzten Gebieten ist so, dass es immer wieder zu Explosionen kommen kann. Ich glaube, die Radikalisierung, die auch in Israel selbst zu erleben ist, dass man einfach kein Problem hat, 1.000 Zivilisten einfach so umzubringen, das bringt uns nicht weiter. Ich denke auch übrigens, dass gerade diese Frage "ein Erfolg für Israel" nicht nur über 1.000 Menschen das Leben kostete, sondern es führte auch zu einer beträchtlichen Zerstörung der lokalen Infrastruktur. Darüber hinaus bedeutet es, ich glaube, das hat der Welt vor Augen geführt, dass es hier nicht um einen einfachen Konflikt zwischen zwei gleichgestellten Parteien geht, sondern dass es wirklich um eine Besatzung geht. Es geht hier nicht um einen gleichgestellten Kampf wie etwa zwischen Frankreich und Deutschland damals um das Elsass. Es geht hier um eine Besatzung und die Besatzer haben natürlich die Möglichkeit, sie haben viel mehr Macht, viel mehr Möglichkeiten, die andere Seite zu unterdrücken. Ob das am Ende was bringt, ist wirklich dahingestellt.

    Heinlein: Sie haben es eingangs erwähnt, Herr Cohen. Das Geld für diesen Wiederaufbau im Gaza-Streifen ist ja eigentlich da. Fast 4 Milliarden Euro wurden bereitgestellt von der internationalen Gemeinschaft. Doch dieses Geld kommt bei den Menschen nicht an. Welche Rolle spielt denn in diesem Zusammenhang der Bruderkampf zwischen Hamas und Fatah?

    Cohen: Er spielt eine gewisse Rolle, das stört eigentlich sehr. Das Problem ist, dass die Israelis mit der hamas nicht sprechen, dass die EU mit der Hamas nicht spricht, die Amerikaner das nicht tun, und dadurch, dass die Hamas an der Macht ist im Gaza-Streifen, kann das alles irgendwie nicht koordiniert werden. Die Hamas hat auch eigene Interessen und lässt zum Beispiel Leute nicht raus. Wir versuchten jetzt etwa Vertreter von einer Menschenrechtsorganisation, mit der wir zusammenarbeiten, aus dem Gaza-Streifen rauszuholen. Das wurde dann von der Hamas unterbunden. Gleichzeitig muss ich sagen, die Hauptverantwortung liegt bei Israel. Wenn wir davon sprechen, dass seit dem Angriff im Januar 2009 und bis heute – das ist ein Jahr – 41 LKW-Ladungen mit Baumaterialien lediglich in den Gaza-Streifen hinein durften, so spricht das, glaube ich, eine sehr klare Sprache.

    Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Morgen Tsafrir Cohen von der Hilfs- und Menschenrechtsorganisation Medico International. Herr Cohen, vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören nach Ramallah.

    Cohen: Vielen Dank.