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Gebärdensprache
Keine willkürlichen Gebärden

Der Unterschied von Verben, die eine fortführende Handlung beschreiben und Verben, die eine Handlung mit Ziel benennen, drückt sich auch in den Gesten unterschiedlicher Gebärdensprachen aus. Ein Wahrnehmungspsychologe aus Paris hat untersucht, warum Nichtgebärdensprachler diesen Unterschied deuten können.

Von Volkart Wildermuth | 28.04.2015
    Zwei Hände zeigen in der Zeichensprache einen Vogel.
    Zwei Hände zeigen in der Zeichensprache einen Vogel. (imago / View Stock)
    Etwas verkaufen oder verhandeln, den Raum verlassen oder rennen, sich entscheiden oder nachdenken. Allerweltsverben, an denen den meisten Menschen wohl nichts auffallen würde. Linguisten hören aber genauer hin und stellen fest: Es gibt Verben für Handlungen, die einfach weiterlaufen und Verben für Handlungen mit einem Ziel, mit einem konkreten Endpunkt. Im Klang der gesprochenen Sprache lassen sie sich kaum unterscheiden, in der Gebärdensprache ist das anders.
    "Für 'entscheiden' hält man die Hände neben das Gesicht führt sie dann schnell nach unten und stoppt die Bewegung abrupt ab. Die Geste für 'denken' ist ein Kreisen der Hand an der Schläfe, da gibt es kein klares Ende."
    Und so wie es in der italienischen Gebärdensprache ist, ist es auch in jeder anderen, die Brent Strickland untersucht hat. In der amerikanischen Zeichensprache, der niederländischen, österreichischen, kroatischen oder türkischen. Verben mit einem klaren Ziel werden mit einer Geste mit ebenso klarem Ende gebärdet.
    Mehr als ein Zufall
    Das kann kein Zufall sein, dachte sich der Wahrnehmungspsychologe vom französischen Nationalen Zentrum für wissenschaftliche Forschung in Paris. Er wollte herausfinden, ob diese Gemeinsamkeit der Gebärden vielleicht auf eine Gemeinsamkeit in der Arbeitsweise des Gehirns zurückgeht. Dazu hat er Videos von unterschiedlichen Gebärden aufgenommen und Menschen vorgespielt, die keine Zeichensprache beherrschen. Dann bekamen sie zwei Verben als mögliche Bedeutung angeboten: das eine zielorientiert, das andere nicht.
    "Also wenn wir die Geste für 'entscheiden' zeigten, dann konnten sie zwischen 'entscheiden' oder 'rennen' wählen. In neun von zehn Fällen wählten sie das richtige Verb. Das war sehr überraschend. "
    Die Geste beginnt allerdings am Kopf, vielleicht liegt es da einfach nahe, auf "entscheiden" statt auf "rennen" zu tippen. In einem zweiten Experiment bot Brent Strickland deshalb zwei Bedeutungen aus demselben inhaltlichen Kontext an, also bei der Geste "entscheiden" die Verben "entscheiden" oder "nachdenken". Auch da lag die Trefferquote bei fast 85 Prozent. Es gibt also auch bei Nichtgebärdlern ein Gefühl für die Zeichen.
    Dafür kann es zwei Erklärungen geben: Die eine wäre eine angeborene universelle Grammatik, die hinter allen Sprachen steht, gesprochenen wie gebärdeten. Dieses Konzept ist unter Linguisten ebenso populär wie umstritten. Doch der Psychologe Brent Strickland favorisiert eine andere, breiter angelegte Hypothese, die nicht nur auf Sprach-, sondern ganz allgemein auf Denkgewohnheiten zurückgreift.
    "So ab drei, vier Monaten registrieren Säuglinge ganz genau die Endpunkte von zielgerichteten Handlungen und beachten sie mehr als Bewegungen ohne klares Ziel. Und wenn sie dann sprechen lernen, dann übertragen sie diese Unterscheidung in die Struktur ihrer Sprache. Dieses besondere Interesse an zielgerichteten Handlungen ist wohl angeboren, und deshalb finden wir die Unterscheidung in so vielen Kulturen, in so vielen Sprachen und so früh in der Kindheit."
    Eine Handlung, die ein Ziel und damit ein Ende hat, entspricht ganz natürlich einer abrupten Geste. Und das erlaube es auch Nichtgebärdlern, zumindest in dieser Hinsicht die Zeichen zu deuten.