Freitag, 19. April 2024

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Geberkonferenz für den Libanon
„Finanzhilfen sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein“

Frankreich hat eine Hilfskonferenz für den Libanon veranstaltet und dem Land 100 Millionen Euro „direkte Hilfen“ zugesagt. Das Land steckt ein Jahr nach der Explosion in Beirut in einer tiefen Wirtschafts- und Finanzkrise. Der Libanon brauche aber mehr als nur Hilfsgelder, sagte der Nahostexperte Shahin Vallée im Dlf.

Shahin Valleé im Gespräch mit Frederik Rother | 04.08.2021
Weiße Luftballons fliegen über dem zwerstörten Hafen in Beirut, 10. Oktober 2020
Beirut im Oktober 2020. Die Explosion, die den Hafen am 4. August 2020 erschütterte, war eine der gewaltigsten der Weltgeschichte. (IMAGO / Xinhua)
Etwa 200 Tote, 6.000 Verletzte, Hafen- und Wohngebiete, die stark zerstört sind, die Bilanz der Chemie-Explosion in Beirut vor einem Jahr ist verheerend.
Viele Menschen im Libanon machten die als korrupt geltende politische Führung dafür verantwortlich. Die Regierung musste zurücktreten. Seitdem ist trotz internationaler Mahnungen und Appelle kaum etwas passiert. Eine neue Regierung gibt es immer noch nicht, die wirtschaftliche Krise des Landes ist dramatisch, es fehlt an Strom, Treibstoff und Lebensmitteln.
Die von Frankreich organisierte Geberkonferenz könne zwar wichtige Hilfe leisten, aber das reiche nicht, um die grundlegenden Probleme des Libanon zu lösen, sagte Shahin Valleé im Dlf. Hier müssten Frankreich und auch die EU mehr tun, meint der Politikexperte von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.
Blick auf den zerstörten Hafen von Beirut, im Vordergrund ein Schiffswrack
Ein Jahr nach der Explosion in Beirut​ - Die Last des Status quo
Viele der rund 300.000 Menschen, die bei der gewaltigen Explosion im Beiruter Hafen obdachlos wurden, können noch immer nicht zurück. Hinzu kommt eine schwere Wirtschaftskrise – und ein erstarrtes politisches System.
Frankreich hat angekündigt, der Bevölkerung im Libanon in den kommenden Monaten weitere Hilfen im Wert von 100 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen.
Präsident Macron sagte zur Eröffnung der internationalen Geberkonferenz nach der Explosion am Hafen von Beirut vor einem Jahr, die Hilfen seien in erster Linie für die Bereiche Bildung, Ernährung und Landwirtschaft bestimmt. Zudem will Frankreich 500.000 Corona-Impfdosen in seine ehemalige Kolonie schicken.
Auch Deutschland versprach zusätzliche Hilfen: Außenminister Maas kündigte die Zahlung weiterer 40 Millionen Euro an, mit denen die Menschen im Libanon unterstützt werden sollten, darunter auch syrische Flüchtlinge.

Das Interview im Wortlaut:

Frederik Rother: Einige Tage nach der Explosion reiste Macron in den Libanon gereist, er veranstaltete mehrere Hilfskonferenzen, er sprach von einer "letzten Chance" für das Land. Ist Macron der Retter des Libanons oder weiß er sich einfach nur gut zu inszenieren?
Shahin Valleé: Nein, ich denke nicht, dass Macron der Retter des Libanon ist. Der Libanon kann sich nur selber retten. Aber es stimmt, dass Macron und Frankreich eine wichtige Rolle in der Geschichte und der politischen Entwicklung des Libanon spielen. Frankreich organisiert schon lange internationale Unterstützung für das Land und macht das bis heute.

"Das politische System ist das Problem"

Rother: Schauen wir auf einige der Ergebnisse. Bei der ersten Hilfskonferenz nach der Explosion kamen gut 250 Millionen Euro zusammen. Jetzt werden gut 300 Millionen angepeilt. Reicht das, um den Land aus der Krise zu helfen?
Valleé: Nein, das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Wenn wir uns frühere Geberkonferenzen anschauen, dann gingen die Zusagen für Kredite, Zuschüsse und andere finanzielle Unterstützung in die Milliarden. Jetzt geht es um einen sehr kleinen Betrag, vor allem mit Blick auf die Herausforderungen, mit denen der Libanon konfrontiert ist.
Das ist zum einen die Finanz- und Wirtschaftskrise, die den Libanon trifft, und zum anderen der Wiederaufbau von Beirut nach der Explosion. Die Schäden nach der Explosion werden auf mindestens 15 Milliarden US-Dollar geschätzt.
"Meine Regierung hat das gemacht", steht am Straßenrand vor der Ruine des Lagerhauses in Beirut, das Anfang August 2020 explodierte
Libanon: Zwischen Kreuz und Koran
Der tiefe Krater in der Stadt wirkt wie ein Sinnbild für die Krise des Landes. Die Bevölkerung traut ihrer Regierung nicht zu, einen Ausweg zu finden. Die Religionsgemeinschaften sind ein Teil des Problem.
Also, die Geberkonferenzen sind ein Tropfen auf den heißen Stein, sie sind auch hilfreich, keine Frage, aber ich denke, sie sind weit weg von dem, was der Libanon braucht. Der Libanon braucht Zuschüsse von Geberländern und der Libanon braucht finanzielle Unterstützung in Form von Krediten, wie es sie normalerweise über Programme des Internationalen Währungsfonds und der EU gibt. Ich denke, das ist das Wichtigste.
Ob es dazu kommt, hängt auch davon ab, ob die Regierung und das politische System überhaupt fähig und bereit sind, solche Hilfen anzunehmen. Aktuell ist das das Problem.

"Sanktionen würden nicht viel verändern"

Rother: Viele Experten sagen: Das politische System des Libanon ist das Grundproblem, politische Führer wirtschaften in die eigene Tasche, und kümmern sich kaum um ihr Land und ihre Menschen. Reichen denn Appelle von europäischen Politikern aus, um das Problem zu lösen?
Valleé: Es stimmt, das politische System ist ein Problem, aber ich glaube nicht, dass es eine einfache Lösung für diese tiefgehende politische Krise gibt. Ich mache mir Sorgen, dass europäische Politiker Sanktionen gegen führende libanesische Politiker erlassen und das für eine einfache Lösung halten, um den politischen Stillstand des Landes zu überwinden, und das politische System zu verändern.
Leider ist es aber eben nicht so, dass Sanktionen gegen libanesische Individuen, selbst wenn sie für die Situation im Land mitverantwortlich sind, viel verändern würden. Man muss auch wissen: Dieses politische System ist das Ergebnis einer Vereinbarung nach dem Bürgerkrieg, mit dem Frieden in einer sehr fragmentierten Gesellschaft, in einem sehr fragmentiertem politischen System hergestellt wurde.
Also, ich denke es gibt hier keine einfachen Lösungen. Lösungen werden vielmehr eine Weile brauchen, und sie müssen sich aus der libanesischen Gesellschaft heraus entwickeln.

Ein großes Problem: die Banken

Rother: Ja, die EU denkt laut über einen Rechtsrahmen nach, um libanesische Politiker zu sanktionieren. Was würde denn helfen, welche Hebel sind notwendig, um Veränderungen zu erreichen?
Valleé: Ich denke, die EU könnte dabei helfen, dass zivilgesellschaftliche Organisationen und neue politische Parteien entstehen. Das würde auch helfen, die stillschweigenden Macht-Vereinbarungen zwischen allen politischen Kräften zu brechen. Und die EU muss geduldig sein und erkennen, dass tiefgreifende Veränderungen notwendig sind.
Und ich glaube, dass es sehr wichtig ist, sich die Zentralbank und den Bankensektor anzuschauen. Denn die Banken tragen große Verantwortung dafür, dass das Land ökonomisch und politisch blockiert ist. Man könnte hier einiges machen: Mehr Transparenz erzwingen, sicherstellen, dass das Bankensystem kein Vehikel ist für Korruption und Steuerhinterziehung, auch Druck auf die Zentralbank wäre möglich – aber diese Lösungen werden Zeit brauchen. Und bis dahin ist finanzielle und politische Unterstützung für die libanesische Zivilgesellschaft notwendig.

"Ein neues Syrien soll verhindert werden"

Rother: Warum, würden Sie sagen, ist es wichtig, dass Frankreich und die EU sich um den Libanon bemühen?
Valleé: Der Libanon ist wichtig. Erstens, weil er in der direkten Nachbarschaft Europas ist. Und zweitens, weil es der Mittelpunkt der ganzen Region ist. Die ganze Geopolitik der Region kommt hier zusammen, ähnlich wie es vorher in der Syrien der Fall war.
Und die große Gefahr ist, so wie auch in Syrien, dass politische Instabilität zu einem Bürgerkrieg führt, und dazu, dass sich die Großmächte in der Region einmischen. Der Libanon könnte also zu einem ähnlichen Schauplatz werden wie Syrien. Und das versuchen Frankreich und die EU zu verhindern.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.