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Gebremster Anstieg

Glaziologie. - Unter den Eisschilden am Südpol gilt der der Westantarktis als anfällig für den Klimawandel. Bislang gingen die Forscher davon aus, dass eine abschmelzende Westantarktis den Meeresspiegel um fünf Meter ansteigen lassen würde. Tatsächlich, so schreiben Geophysiker jetzt in "Science", sind es nur gut 3,5 Meter.

Von Volker Mrasek | 15.05.2009
    Dass der Meeresspiegel um rund fünf Meter steigt, wenn die Eishülle der West-Antarktis abschmilzt – diese Zahl stammt aus einem vielbeachteten Fachartikel. Doch der Aufsatz ist mittlerweile leicht angestaubt. Er stammt aus dem Jahr 1978.

    "Es wäre längst möglich gewesen, diese Angaben zu überprüfen. Denn die Datenlage hat sich immer weiter verbessert. Es kamen immer genauere Messungen zur Geometrie des Eispanzers und der Landoberfläche darunter hinzu."

    Jonathan Bamber hat das jetzt nachgeholt. Der Geophysiker und Eisexperte von der Universität Bristol in England wertete die neuesten Messdaten von Satelliten und Flugzeugen aus, gemeinsam mit Kollegen aus den Niederlanden. Die Forscher kommen zu dem Schluss: Wenn der west-antarktische Eisschild kollabiert, steigt der Meeresspiegel nicht um fünf Meter, sondern allenfalls um 3,30 Meter. Bamber:

    "Nach unseren Berechnungen sind größere Eis-Bereiche in der West-Antarktis stabil, als man bisher dachte. Es ist vorwiegend Eis in Regionen, in denen das darunterliegende Grundgestein über dem Meeresspiegel liegt. Es hat praktisch keinen Kontakt zum Ozean. Das gilt für das meiste Eis in der Ost-Antarktis – und auch für etwa ein Viertel des Eises im Westteil des Kontinentes."

    Die West-Antarktis ist ein Phänomen. Man muss sich ein Landgebiet vorstellen, das größtenteils unter dem Meeresspiegel liegt. Im Zentrum gibt es regelrechte Tiefsee-Täler. So kommt es, dass der mächtige west-antarktische Eispanzer nicht nur über 2.000 Meter hoch in den Himmel aufragt; er füllt auch die Landsenken unter der Wasseroberfläche aus, zum Teil bis in 2,5 Kilometer Tiefe. Das macht es so gefährlich für die West-Antarktis. Ein Ozean, der sich erwärmt, kann praktisch immer weiter landeinwärts vorstoßen und immer mehr Eis dazu bringen, sich vom Grundgestein zu lösen und abzuschmelzen. An diesem Modell rüttelt auch die neue Studie nicht. Doch ihr zufolge werden zwei große Eiskappen erhalten bleiben, denen eine Meereserwärmung nichts anhaben kann – die eine 600, die andere 200 Kilometer lang. Daher am Ende der geringere Meeresspiegelanstieg. Sind das endlich einmal gute Nachrichten aus dem Treibhaus Erde? Nicht unbedingt, findet Eric Ivins, Geophysiker vom California Institute of Technology in Pasadena:

    "Auch ein Meeresspiegelanstieg von drei Metern ist eine extrem schlechte Nachricht. Selbst ein halber Meter wäre schon verheerend für viele Küstenstädte. Wir können allerdings nicht vorhersagen, wie schnell oder wie langsam eine Eisschmelze in der West-Antarktis abliefe. Es wird darüber spekuliert, dass es mehrere hundert Jahre dauern würde. Es könnten sogar über 1000 sein. Das wäre die bessere Nachricht."

    Eine andere, nicht minder wichtige Frage: Wann kommt der Prozess in Gang? Könnte das sogar schon heute sein? Forscher wie Ivins und Bamber sehen aktuelle Entwicklungen in der West-Antarktis durchaus mit Sorge. Bamber:

    "Haben wir bereits Anzeichen für einen möglichen Kollaps des Eisschildes? Ich denke, die Antwort auf diese Frage lautet. Ja! In den letzten zehn Jahren gab es zum Teil dramatische Eisverluste im Amundsen-Meeressektor. Das ist eine Region, die auch in unseren Szenarien von einem Kollaps des Eispanzers als besonders kritisch hervortritt. Ich behaupte nicht, dass es definitiv schon so weit ist. Aber was ich sage, ist: Es gibt sehr ernstzunehmende Warnsignale."

    Daher auch der Appell der Forscher: Die Welt sollte das, was in der West-Antarktis geschieht, weiterhin genau im Auge behalten.