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Gebrochene Schönheitssehnsucht

Heute vor 124 Jahren starb der russische Komponist Modest Mussorgskis - ein Opfer des Alkoholismus. Die meisten seiner Werke waren unvollendet; sein Freund Rimski-Korsakoff hat sie später nachbearbeitet. In Frankfurt hat jetzt Christian Pade "Chowantschina" neu inszeniert.

Von Frieder Reininghaus |
    Wie wird heute mit großen Historien-Opern verfahren? Zumal, wenn keine definitiv "gültige" Fassung des zur Diskussion stehenden Werks vorliegt und schon von daher zwangsläufig die Bearbeitungs- und Rezeptionsgeschichte Bestandteil des Unternehmens sind? Die neue Frankfurter "Chowanschtschina"-Produktion präsentiert die Sittenbilder aus einem gar nicht so alten Rußland als Studien zu Begehren, Macht und Angst vor Machtverlust, Gewaltförmigkeit bei abwesender Rechtstaatlichkeit und Vernichtung einer ganzen Volksgruppe vor einer vieldeutigen und in verschiedenen Varianten sich präsentieren Treppen- und Tor-Anlage, die entfernt an einen Repräsentationsbau der sozialistischen Monumental-Architektur erinnert.

    Ohne dass es mit Holzhämmern eingebleut würde, hat Christian Pade die fortdauernde Aktualität der im Jahr 1682 angesiedelten Handlung akzentuiert, zugleich aber immer wieder auch auf die Historizität verwiesen. Eingangs durch eine Grabungsstelle auf dem Platz, der dank Alexander Lintls kluger Bühnen-Installation auf Zitate der Kreml-Außenansicht verzichtet. Eine alte Zarenkrone kommt da zum Vorschein und mit ihr der Traum von der Macht. Zugleich aber zeigt sich nicht nur sozialer Konfliktstoff, sondern - changierend zwischen vorgestern, gestern und heute – der Konflikt zwischen einem um Reformen ringenden Land und Kräften des konservativen Beharrens.

    "Chowanschtschina" präsentiert bürgerkriegsähnliche Zustände von Anfang an und am Ende eine wohl sehr russische Konfliktlösung: Zum Untergang verurteilt werden vom Zaren Peter, dem später das Attribut "der Große" zukam, die Strelizen, die Angehörigen des Moskauer Garde-Regiments der vorangegangenen Herrscher (heute würde man von Präsidentengarde sprechen oder den Truppen des Innenministeriums); ihre Anführer werden entmachtet und gemeuchelt, die Reste des einst so mächtigen Häufleins ins Feuer getrieben, das sie in rechtgläubigem Fanatismus selbst legten.

    Aber auch Fürst Golizyn, der Mann des Fortschritts im Kreml - von Lars Eric Jonsson ganz hervorragend als korrupter Taktierer mit verführerischem Tenor vorgeführt verliert schlagartig Macht und Reichtum. In "Zeiten des Verdachts, des Verrats und der Gewinnsucht", so das Schlüssel-Motiv, wird er verbannt. Christian Pade läßt ihn aus seinem Dienstsitz tragen, an das Nornenseil binden (an dem zuvor ein Schicksalspendel hing) und in den Bühnenhimmel schweben: hilflose Gesten begleiten den unerbittlichen Flug in die historische Leere und Bedeutungslosigkeit.

    Der junge russische Dirigent Kirill Petrenko, auf den man um die Jahrhundertwende als Generalmusikdirektor von Meiningen aufmerksam wurde und der nun als Chefdirigent an der Komischen Oper Berlin wirkt, animierte das Frankfurter Museumsorchester und die Chöre zu einer bemerkenswerten Leistung: die knappen, konzisen Gesten Mussorgskis erhielten ebenso klare Konturen wie die Volkschöre wohlklingende Tiefe und geballte Erregung. Das Solistenensemble war kompetent zusammengestellt - herausragend neben Anatoli Kotscherga als geistlichem Führer Dosifej die kundryhafte Elina Cassian als Marfa und Lars Eric Jonsson als Fürst Golizyn.
    Die Schrecken der Geschichte und Gegenwart, die Christian Pades Inszenierung durchaus drastisch, aber eben nicht so exzessiv lustvoll wie beispielsweise Calixto Bieito zeigt, werden kontrapunktiert von der ironisch gebrochenen Schönheitssehnsucht und dem Vorschein oder Nachklang von Schönheit. So stellt sich Dialektik her auf dem Theater und in den höheren wie den tieferen Sphären seiner Musik.