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Geburt der Apparatemedizin

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts kam es in Europa wie in den Vereinigten Staaten in einem Turnus von etwa fünf bis sechs Jahren zu mehr oder weniger heftigen Polio-Epidemien. Viele Patienten überlebten nur dank der ersten maschinellen Atemhilfe des amerikanischen Ingenieurs Philip Drinker.

Von Irene Meichsner | 14.09.2009
    "Meine Rippen wurden durch den hohen Druck regelrecht nach innen gebogen. Dadurch schoss die Luft aus meinem Mund. Ließ der Druck nach, weiteten sich die Rippen und Lungen wieder - was dazu führte, dass Luft durch meinen Mund eingesogen wurde. So atmete ich."

    Die Amerikanerin June Opey lebte zwei Jahre lang in einer Eisernen Lunge. Sie war als kleines Mädchen an Kinderlähmung erkrankt. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts kam es in den USA wie in Europa etwa alle fünf bis sechs Jahre zu mehr oder weniger heftigen Polio-Epidemien. Das Poliovirus befällt die Muskel steuernden Nervenzellen des Rückenmarks – mit oft tödlichen Folgen für die Patienten, wenn auch ihre Atemmuskulatur versagt. June Opey überlebte - dank der ersten mechanischen Atemhilfe. Ihr Leib war vollständig in einen Metallzylinder eingeschlossen, in dem ein Motor abwechselnd einen Über- und Unterdruck erzeugte. Nur ihr Kopf ragte aus dem sargähnlichen Apparat heraus.

    Ein monströser Anblick. Und ein grausames Schicksal. Doch andererseits: Tausenden von Polio-Patienten konnten Ärzte mit der Eisernen Lunge helfen. Dabei hatte der Ingenieur Philip Drinker von der Medizinischen Fakultät der Harvard Universität in Boston anfangs gar nicht an die Kinderlähmung gedacht. Im Auftrag der New Yorker Gas- und Elektrizitätsgesellschaft sollte er ein Gerät entwickeln, mit dem sich Opfer einer Gasvergiftung oder eines Stromschlags behandeln ließen.

    Drinker testete den Prototyp zuerst am eigenen Leib. Er begann heftig zu hyperventilieren, aber die Technik funktionierte. Wenig später, im Oktober 1928, wurde ein achtjähriges Mädchen mit schwerer Kinderlähmung in die Klinik eingeliefert. Es rang nach Atem, sein Zustand schien hoffnungslos. Charles McKhann, ihr damaliger Arzt:

    "Am nächsten Morgen, als das Mädchen schon im Koma lag, wurde es in die Maschine geschoben. Nach ein oder zwei Minuten kam sie wieder zu sich. Wenig später fragte sie nach Eiskrem. Fast alle, die dabei waren, brachen in Tränen aus. Obwohl diese erste Patientin einige Tage später an einer Lungenentzündung starb, war das Prinzip der externen Atemhilfe damit eingeführt."

    Im Mai 1929 schilderten Drinker und McKhann den Fall in der medizinischen Fachpresse. Erst nachdem das Gerät im Sommer zum Patent angemeldet war, stellte Drinker es am 14. September 1929 der Öffentlichkeit vor. Ein Student der Harvard-Universität war an Polio erkrankt. Er wurde mit Erfolg in einer Eisernen Lunge behandelt.

    "Die Nachricht von dem 'mechanischen Atemgerät' breitete sich schnell über die ganze Welt aus. Die Medien stürzten sich auf das Drama um dieses neue Gerät, irgendein Journalist taufte es 'Eiserne Lunge'."

    1931 kam es erneut zu einer schweren Polio-Epidemie. Die Eisernen Lungen gingen in die Massenproduktion – der Beginn der modernen Apparatemedizin mit all ihren Licht- und Schattenseiten. Es entstanden Beatmungszentren speziell für Polio-Patienten – die Vorläufer der modernen Intensivstation. Manche brauchten die maschinelle Hilfe nur für kurze Zeit, andere verbrachten in der 300 Kilogramm schweren Röhrenkonstruktion viele Monate oder Jahre, einige sogar ihr ganzes Leben.

    "Die meisten Leute unter 40 haben wahrscheinlich noch nie eine Eiserne Lunge gesehen", schrieb der britische Publizist Richard Hill 1995 in einem preisgekrönten Essay: "Aber von den späten 20ern bis in die 50er-Jahre war sie 'State of the Art', Hightech, der Inbegriff einer lebenserhaltenden Technologie."

    O-TON Deutsche Wochenschau April 1957: "In Oberhausen begann die erste deutsche Massenimpfung gegen Kinderlähmung. Mit dem in Amerika entwickelten Impfstoff soll endlich die Gefahr dieser tückischen Krankheit weitgehend gebannt werden."
    Erst mit den großen Impfkampagnen der 50er- und 60er-Jahre verlor die Kinderlähmung - zumindest in den Industrienationen - ihren Schrecken. Auch die Ära der Eisernen Lunge ging zu Ende. Die Produktion wurde 1970 eingestellt. 2004 liefen die Wartungsverträge aus – trotz der Proteste von etwa einem Dutzend Patienten, die zu diesem Zeitpunkt immer noch in einer Eisernen Lunge lebten. Eine von ihnen, Dianne Odell aus Jackson im Bundesstaat Tennessee, starb im Mai 2008 im Alter von 61 Jahren - nach fast 58 Jahren in einer Eisernen Lunge. Das Gerät hatte versagt: die tragische Folge eines Stromausfalls und eines gleichzeitigen Defekts im Notstromaggregat.