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Geburt der Moderne

Modern wollten sie sein, sich den ästhetischen Konventionen der Kaiserzeit widersetzen: die Künstler des Wiener Fin-de-Siècle. In New York ist den Klimts und Kokoschkas jetzt eine Werkschau gewidmet. Bis Ende Juni 2011 ist "Stil und Identität – Wien 1900" in der "Neuen Galerie" zu sehen.

Von Sacha Verna |
    Noch schwang Kaiser Franz Joseph das Zepter. Doch über Hirn und Herz mancher Untertanen hatte der Donaumonarch die Herrschaft bereits verloren. Zumindest künstlerisch begann sich in Wien um 1900 Widerstand zu regen gegen den alles prägenden Stil einer höfisch-aristokratischen Welt, der den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen und den technischen Möglichkeiten der Zeit längst nicht mehr entsprach.

    "Wenn man ein Telefon in einer Neo-Rokoko-Form hat, da stimmt etwas nicht mehr","

    sagt Christian Witt-Dörring, der Kurator der ambitionierten Ausstellung über die Wiener Moderne in der Neuen Galerie. Die mit der Wiener Moderne gerne assoziierte Befreiung des Individuums bildet einen Schwerpunkt dieser Schau. Deshalb steht vor Max Oppenheimers Porträt von Sigmund Freud eine Couch, auf der man über die Klimts, Kokoschkas und Schieles und über die drei eindrücklichen Selbstporträts des tragisch und früh verstorbenen Richard Gerstel sinnieren kann, die einen in dem entsprechenden Saal umgeben:

    ""Es geht immer um individualistischen, kreativen Ausdruck. Das ist etwas ganz, ganz Neues. Bis dahin hat es in der Gesellschaft, auch im täglichen Leben eine sehr strikte Teilung, Trennung gegeben zwischen dem privaten Bereich und dem öffentlichen Bereich. Und das beginnt sich jetzt völlig zu vermischen."

    Den Individualisten der Wiener Sezession folgten 1905 die Gründer der Wiener Werkstätte. Dort huldigte man der Idee des Gesamtkunstwerks. Josef Hoffmann, Kolomann Moser und der Mäzen Fritz Wärndorfer strebten nach einer funktionsorientierten Ästhetik und nach einer Gesellschaft, in der das tägliche Leben und Kunst ein harmonisches Ganzes darstellten.
    Dass der Erwerb der eleganten Möbel aus der Wiener Werkstätte ebenso wie die langstieligen Likörgläser oder goldenen Zigarettenetuis nur für eine schmale Schicht der kaiserlich und königlichen Gesellschaft erschwinglich waren, bezeichnet Christian Witt-Dörring als sehr wienerisch:

    "Das findet eben in einer katholisch-autoritären Kultur statt, die sich nicht von heute auf morgen verändern kann."

    Drei Hoffmannsche Intérieurs teilen sich in dieser Ausstellung einen Raum mit einer guten Stube à la Adolf Loos, der laut Christian Witt-Dörring als einsamer Leitwolf eine Gegenbewegung zur Wiener Werkstätte vertrat:

    "Der Unterschied ist eigentlich, wenn wir das auf den kleinsten gemeinsamen Nenner bringen, dass Hoffmann und seine Mitstreiter, die nehmen einen alten Inhalt und geben dem alten Inhalt ein neues Kleid; währenddem Adolf Loos den Inhalt selber infrage stellt und einen neuen Menschen fordert. Die Form selber und überhaupt die Stilfrage stellt sich für Loos nicht. Allein die Stilfrage ist bereits ein altmodischer Zugang."

    Die Wiener Modernisten waren nicht die Einzigen ihrer Art im damaligen Europa, doch:

    "Prinzipiell glaube ich, ist die Wiener Welt eine viel sinnlichere ästhetische und auch viel stärker dem Handwerk anhängende Welt, während eben die deutsche Welt eine viel sachlichere und der Industrie zugeneigte Welt ist."

    Die Sinne erfreut tatsächlich vieles in dieser Ausstellung. Und am besten hält man sich an diese Einzelheiten. Denn insgesamt wirkt die Schau ein bisschen wie ein Basar von Interpretationen und Illustrationen und kuratorischen Einfällen, zusammengetragen, um einen Moment in der Geschichte der Künste zu beleuchten, dem mit einem spezifischeren Ansatz vermutlich besser gedient wäre.

    "Vienna 1900: Style and Identity”. Neue Galerie, New York, bis 27. Juni 2011. Zur Ausstellung ist unter demselben Titel ein 280-seitiger Katalog erschienen. Er kostet 50 Euro.Webseite "Neue Galerie" New York