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Geburt einer Idee

Jene Schlacht, die vor 150 Jahren in der Lombardei geschlagen wurde, war unerbittlich und grausam. Und doch steht der Name "Solferino" heute für den Aufbruch in eine bessere, menschlichere Welt - schlug doch in Solferino die Geburtsstunde des Roten Kreuzes.

Von Jochanan Shelliem |
    Lange hat er es in einer alten Truhe aufbewahrt: das schmale, ledrige Tagebuch des Peter Ladurner.

    Den 28ten habe ich es mit dem Losziehen verspielt und die sehr schöne Nr. 2 gezogen.

    Auf allen Umzügen ist es mit ihm gereist. Er hat es nicht gelesen, zu schwer wog der Bericht des Urgroßvaters.

    Nur noch eine kleine Zeit kannst du in dein Vaterland bleiben, dann musst du fort, und hin nach Italien.

    Die Überlieferung des Soldaten, der die Schlacht von Solferino 1859 überlebte, war ihm zu nah. Ulrich Ladurner, im Brotberuf Zeitredakteur berichtet zwar selbst von Kriegsschauplätzen, wie dem Irak oder Afghanistan, der Blick seines Habsburger Urgroßvaters jedoch war ihm zu nah.

    Es ist ein heißer Junitag, mittags.

    Dann aber reist er – ohne Tornister – doch mit dem schmalen rissigen Buch nach Solferino südlich des Gardasees.

    Die Bewohner Solferinos haben sich vor der Glut der Sonne in ihre Häuser geflüchtet.

    Dem Ort, an dem 40.000 Soldaten verbluteten und die Einigung Italiens, wie der Abstieg der Habsburger Monarchie begann.

    Es ist still. Nur ab und an ist der Lärm eines Autos zu hören, das auf der Hauptstraße nach Castiglione delle Stiviere fährt.

    Es ist dies kein Roman und keine Dokumentation, doch nutzt der Auslandskorrespondent die Freiheit des Essays, lässt sich von den Notizen seines Urgroßvaters inspirieren und dreht am Rad der Zeit. Klug komponiert spielt er mit seinen Lesern, verweigert den vollständigen Einblick in den historischen Bericht, lässt sich von der Gegenwart inspirieren und gibt den Opfern der blutigsten Schlacht des 19. Jahrhunderts seit Waterloo ein Gesicht.

    Nach ungefähr einem Drittel des Weges sehe ich auf eine Hauswand, auf der Höhe des zweiten Stockes, eine seltsame Malerei. Sie zeigt, wie eine Frau einen Fensterladen öffnet. Die Proportionen des Bildes verraten, das der Maler nicht zu den Erfahrenen seines Faches gehört, wahrscheinlich hat er sein Geld als Schildermaler verdient und sich nur ab und an der figürlichen Darstellung gewidmet. Doch liegt etwas Feierliches in der Art, wie die Frau aus dem Fenster schaut. Sie trägt ein rotes Kleid und ein sorgfältig gebundenes weißes Halstuch. Ihr Haar ist schwarz. Sie wirkt, als wolle sie die Passanten einladen, um sie im Haus zu bewirten und die Geschichte zu erzählen, die ihr widerfahren ist. Eine Figur aus einem Märchen, an eine graue, unverputzte Wand gebannt. "Kommt näher! Kommt näher!" sagt sie, und ich gehe bis an die Hauswand, lege meinen Kopf in den Nacken. Unter dem Bild ist in ungelenker Schrift gepinselt: Am 24 Juni 1859 tötete hier eine verirrte Kugel Antonia Savio Cerini.

    Der Urenkel des Zeugen mit Kaiser Franz Josephs Bajonett macht uns zu Zeugen seiner Recherchereise und während Ulrich Ladurner durch die Idylle von Venetien flaniert, verwandelt sich die Siesta der Einwohner von Solferino in die blutige Agonie der Schlacht.

    Antonia Savio Cerini hat am falschen Tag, zur falschen Stunde aus dem Fenster geblickt. Es waren gerade schwere Kämpfe im Gange, als sie die Fensterläden öffnete. Auf den Anhöhen von Solferino hatten sich die österreichischen Soldaten verschanzt. Die französische Armee rückte aus Richtung Castiglione delle Stiviere vor, aus der Ebene, die für die Österreicher leicht einsehbar war. Den Franzosen gelang es unter hohen Verlusten, voranzukommen. Sie waren zwar wegen des Geländes im Nachteil, doch je näher sie kamen, desto mehr Gräben, Bachläufe, Hecken, Weinreben, Bäume, Felsen fanden sie vor. Sie dienten den Soldaten als Schutzschild, hinter dem sie sich verbargen, ihre Gewehre nachluden, das Bajonett aufpflanzten und dann weiterstürmten, den alles beherrschenden Turm, dessen Eroberung den Sieg in der Schlacht bringen würde, fest im Blick. Die Franzosen mussten durch das sogenannte Valletta hindurch, ein kleines Tal zwischen den Anhöhen. Sie hatten keine andere Wahl. Die Österreicher konnte sie so in tödliches Kreuzfeuer nehmen. Dieses Valletta ist nichts anderes als die alte Hauptstraße Solferinos, auf der ich nun schweißgebadet stehe und das Bild Antonia Savio Cerinis betrachte.

    Zu den Vorzügen dieses Essays gehört nicht allein der reiche Wissensschatz Ladurners, sondern der unprätentiöse Ton, mit dem er die Berichte der Vergangenheit mit den Kriegsbildern von heute verspinnt. Wir folgen dem Flaneur mit Hut und Buch und werden mit der Verwahrlosung des Krieges konfrontiert, der heute nicht mehr zwischen Zivilisten und Soldaten unterscheidet. Damals betritt ein Dandy und Bittsteller das Kriegsfeld: Der Genfer Kaufmann Henry Dunant auf Suche nach Napoleon III., dem Alliierten der königlichen Truppen von Piemont, den er für ein Projekt gewinnen will.

    Der Kaiser würde ihm die Konzessionen nicht verwehren! Ein Federstrich nur und alles würde wieder ins Lot kommen. Dunant könnte die Mühlen bauen, Algerien in ein wogendes Weizenmeer verwandeln, Frankreich versorgen und den Investoren ihre Rendite ausbezahlen. Doch Napoleon III. befand sich in Solferino und schlug eine Schlacht. Für Bittsteller hatte er keine Zeit, schon gar nicht für seltsame Geschäftsleute, die ihm wirre Schriften widmeten und von Dingen träumten, die ihre eignen Kräfte bei Weitem überstiegen.

    Der Kriegsschauplatz wird zum Lehrstück, aus dem Tagebuch des Schusters wird die Frage destilliert: Was ist ein Soldat? Die verblutenden Brigaden werden für den Genfer Unternehmer zum Fanal. Als Henry Dunant auf der Suche nach dem Kaiser in die Schlacht gerät, verändert sich sein Leben.

    Vergebens versuchen Offiziere, die sich mit Löwenmut geschlagen haben, die Soldaten zum Stehen zu bringen. Beschwörungen, Flüche, Säbelhiebe, nichts vermag sie anzuhalten, der Schrecken ist zu groß, und die gleichen Soldaten, die eben noch tapfer gekämpft haben, lassen sich jetzt wohl schlagen und beschimpfen, doch durch nichts in ihrer Flucht aufhalten. Dunant schreibt vom Standpunkt eines Menschenfreundes aus. Der Gedanke, der sich durch das Buch zieht, ist schlicht und revolutionär zugleich. Sobald ein Soldat verwundet ist, ist er kein Feind mehr, sondern ein Mensch, der alle Hilfe verdient.

    Aus diesem Gedanken des Geschäftsmannes, den es in die Schlacht von Solferino verschlagen hat, entwickelt sich das Rote Kreuz. Ladurner folgt dem Schlachtverlauf und er verirrt sich wie die Truppen der Franzosen zwischen den Hügeln südlich des Gardasees und es gelingt ihm eine herrliche Synthese: Wo sich einst Untertanen, Freiheitskämpfer und Generäle gegenüber standen, wo Bauern einen Knochenturm errichteten, um auf dem Schlachtfeld wieder Weizen anzubauen, verdichtet sich das blutige Bild des modernen Krieges und die Lust wächst, nach Venetien zu reisen.

    Jochanan Shelliem über Ulrich Ladurner: Solferino – Kleine Geschichte eines großen Schauplatzes, Residenz Verlag, St. Pölten – Salzburg 2009, Euro 17.00.