Für seine Eltern war schon der kleine Felix ein Wunderkind, das fortwährend zum Schreiben und Zeichnen angehalten wurde. Doch für die Nachwelt sind die pathetisch-expressiven Dramen- und Prosafragmente des jungen Felix Hartlaub allenfalls von germanistischem Interesse. Seine Geburtsstunde als Autor, so der Stand der Forschung, schlug erst in den Jahren des Zweiten Weltkriegs als Wehrmachtsangehöriger: Inmitten der allgemeinen Verrohung verwandelte sich der introvertierte, mit Komplexen kämpfende Autor in ein unbestechliches Kameraauge. Mit gleichsam heiliger Nüchternheit notierte Hartlaub, was er in dem von den Deutschen besetzten Paris sah und dann ab 1942 im "Sperrkreis" des Führerhauptquartiers, als Historiker der Abteilung "Kriegstagebuch".
Dort, in der "Wolfsschanze", las Hartlaub auch die Nachrichten vom neuen Kriegsschauplatz Italien – die ihm besonders "zusetzten", wie er im September 1943 seinen Eltern schrieb. Denn: "Die Schauplätze sind einem so nah". Zweimal hatte Hartlaub in seinem kurzen Leben dieses Sehnsuchtsland der Deutschen besucht, einmal 1933 als Student, und bereits zwei Jahre zuvor als Schüler der Odenwaldschule. Nikola Herweg und Harald Tausch haben nun das mit Federzeichnungen versehene Tagebuch der Studienfahrt 1931 aus dem Marbacher Literaturarchiv ausgegraben und für die Bibliothek Suhrkamp vorzüglich ediert und kommentiert. Wer die Einträge liest, reibt sich die Augen: So wenig hat, der sich hier bereits seine Bahn brechende Wahrnehmungsrausch des damals 18-Jährigen mit dem bisher bekannten Frühwerk dieses Autors zu tun, und so viel mit seinen späten Aufzeichnungen etwa aus Paris:
"Frühes Aufstehen, uneinheitliche Stimmung. Verschüttete 'Pasta'. Marsch La Baracca – Levanto. Abstieg zum Mittelmeer. Von der hochgelegenen Strasse Blick auf heroische Gebirgslandschaft. Das ganze Gesichtsfeld mit Höhenzügen erfüllt, im Hintergrund die Apuanischen Alpen, in den Tälern Nebel, Rauch, wundervoll geschwungene Linien; Glücksgefühl. […] Wälder, das Meer ohne Glanz, mit seinen vielen Streifen wie eine Fruchtebene. Architektonische Vorberge, bunt, mit festen Orten, die Strasse, rot und violett gefärbt, schwingt sich in grossen Kehren abwärts. Marmorbrüche, grosse, gesägte Flächen von Marmor, darüber manchmal blitzende Netze von Wasseradern, Strandleben in Levanto. Eindruck vom Mittelmeer. Kriegsschiffe eilen nach Spezia."
Elf Schülerinnen und Schüler der Odenwaldschule waren am 21. Mai 1931 aufgebrochen, um mit ihrem Lehrer Werner Mayer einen Monat lang Landschaft und Kultur Oberitaliens zu erkunden: Von Basel führte die über weite Strecken erwanderte Reise bis nach Florenz. Der Weg entlang der Steilküste der Cinque Terre war nur einer von vielen Höhepunkten. Unter den Einheimischen erregten die Jugendlichen einiges Aufsehen: nicht nur, weil sie ihre Zelte neben dem Dom von Pisa aufschlugen, sondern auch, weil ihre Gruppe aus Jungen und Mädchen bestand.
Von Freundschaften oder Konflikten erfährt der Leser jedoch kaum etwas. Hartlaub, zeitlebens ein Einzelgänger, begnügt sich mit Andeutungen wie "Abends allerhand persönliche Reiberei", ohne dass man den Anlass erfährt. Eigenartig konturlos bleibt auch das Ich dieser Aufzeichnungen. "Man findet keine Freude mehr daran, sich Bergformen einzuprägen", heißt es da etwa seltsam distanziert – für Mitherausgeber Harald Tausch ein Zeichen dafür, wie sehr hier bereits der Augenmensch Felix Hartlaub in Erscheinung tritt:
"Diesen Icherzähler, Sie sagen, den gäbe es nicht, das sehe ich eigentlich anders, nur gewinnt er eben Kontur weniger als Wanderer, man sieht nicht die ganze Gestalt , also er ist nicht integrierter Teil der Gruppe, sondern er ist eben dieses weit offene Auge, […], ein Kameraauge, das sich als solches nur schwer beobachten lässt oder eben nur im Modus seiner Wahrnehmung, die die Farbigkeit, die Farbigkeit sogar von Schatten sprachlich wieder zu erschaffen versucht, und daher vielleicht weniger Wert darauf legt, ich zu sagen."
Als ein solches Kameraauge hielt der junge Hartlaub die Eidechsen auf den Felsen ebenso fest wie die "staubigen" Farben der Mittagshitze oder die "rot gekleideten hageren Bäuerinnen" – ein in seinem Protokollcharakter sprödes, gleichwohl faszinierendes Lektüreerlebnis. Skeptische Distanz bewahrte Hartlaub gegenüber seinem Homer begeisterten Lehrer: Werner Mayer schwelgte im Anblick der Olivenbäume und terrassierten Bergabhänge und behauptete, diese "äschileische Landschaft" unmittelbar zu "verstehen". Dagegen notierte Hartlaub nur lapidar, ihm sei "das Wesentliche der Landschaft […] noch unklar."
Neben der Stimme seines Lehrers rang in ihm noch eine zweite um Gehör, die seines Vaters. Gustav Friedrich Hartlaub, der bedeutende Mannheimer Museumsdirektor, hatte seinem Sohn das kunsthistorische Sehen gelehrt. Für die Reise hatte er Felix mit dem Baedeker ausgerüstet. Die Lektüre des Tagebuchs zeigt, wie der Konflikt zwischen diesen beiden Perspektiven den jungen Felix Hartlaub dazu zwang, einen anderen, ganz eigenen Zugang zur Landschaft und Kultur Oberitaliens zu finden:
["Das sind diese beiden konkurrierenden Impulse, der Vater und der Lehrer, und ich finde, dass Felix mit beiden ringt, sich keinem dieser beiden Impulse anschließt und dann während der Reise eigentlich anfängt, Italien mit den Augen der modernen Malerei zu sehen, also man könnte sagen eventuell Cézanne, man könnte aber auch an die weniger bekannten Rohrfederzeichnungen Vincent van Goghs denken, die versuchen sozusagen mit schwarz-weißen Strichen die ganze Farbigkeit des Südens Frankreichs einzufangen, und ich glaube, Felix Hartlaubs Anliegen war, etwas Ähnliches mit Worten zu schaffen […], nämlich eine dynamische, eine von extremer Farbigkeit gekennzeichnete Landschaft und zugleich ihren tektonischen Aufbau in Worten sprachlich wieder zu erschaffen."
Hier, beim Schreiben dieses bislang unbekannten Reisetagebuchs, schlug die eigentliche Geburtsstunde des Autors Felix Hartlaub. Beim Besuch des Pisaner Camposanto am 8. Juni 1931 scheint der 18-jährige Schüler sogar regelrecht zu verschmelzen mit jenem todesmutigen Autor, der über ein Jahrzehnt später aus der Hölle des Sperrkreises berichten wird. Die Beschreibungen der Fresken vom Weltgericht mit den sich aus dem Leichenfeld reckenden Armen erscheinen dem nachgeborenen Leser wie eine epiphanische Vorahnung dessen, was auf Hartlaub und seine Mitschüler warten sollte.
Dort, in der "Wolfsschanze", las Hartlaub auch die Nachrichten vom neuen Kriegsschauplatz Italien – die ihm besonders "zusetzten", wie er im September 1943 seinen Eltern schrieb. Denn: "Die Schauplätze sind einem so nah". Zweimal hatte Hartlaub in seinem kurzen Leben dieses Sehnsuchtsland der Deutschen besucht, einmal 1933 als Student, und bereits zwei Jahre zuvor als Schüler der Odenwaldschule. Nikola Herweg und Harald Tausch haben nun das mit Federzeichnungen versehene Tagebuch der Studienfahrt 1931 aus dem Marbacher Literaturarchiv ausgegraben und für die Bibliothek Suhrkamp vorzüglich ediert und kommentiert. Wer die Einträge liest, reibt sich die Augen: So wenig hat, der sich hier bereits seine Bahn brechende Wahrnehmungsrausch des damals 18-Jährigen mit dem bisher bekannten Frühwerk dieses Autors zu tun, und so viel mit seinen späten Aufzeichnungen etwa aus Paris:
"Frühes Aufstehen, uneinheitliche Stimmung. Verschüttete 'Pasta'. Marsch La Baracca – Levanto. Abstieg zum Mittelmeer. Von der hochgelegenen Strasse Blick auf heroische Gebirgslandschaft. Das ganze Gesichtsfeld mit Höhenzügen erfüllt, im Hintergrund die Apuanischen Alpen, in den Tälern Nebel, Rauch, wundervoll geschwungene Linien; Glücksgefühl. […] Wälder, das Meer ohne Glanz, mit seinen vielen Streifen wie eine Fruchtebene. Architektonische Vorberge, bunt, mit festen Orten, die Strasse, rot und violett gefärbt, schwingt sich in grossen Kehren abwärts. Marmorbrüche, grosse, gesägte Flächen von Marmor, darüber manchmal blitzende Netze von Wasseradern, Strandleben in Levanto. Eindruck vom Mittelmeer. Kriegsschiffe eilen nach Spezia."
Elf Schülerinnen und Schüler der Odenwaldschule waren am 21. Mai 1931 aufgebrochen, um mit ihrem Lehrer Werner Mayer einen Monat lang Landschaft und Kultur Oberitaliens zu erkunden: Von Basel führte die über weite Strecken erwanderte Reise bis nach Florenz. Der Weg entlang der Steilküste der Cinque Terre war nur einer von vielen Höhepunkten. Unter den Einheimischen erregten die Jugendlichen einiges Aufsehen: nicht nur, weil sie ihre Zelte neben dem Dom von Pisa aufschlugen, sondern auch, weil ihre Gruppe aus Jungen und Mädchen bestand.
Von Freundschaften oder Konflikten erfährt der Leser jedoch kaum etwas. Hartlaub, zeitlebens ein Einzelgänger, begnügt sich mit Andeutungen wie "Abends allerhand persönliche Reiberei", ohne dass man den Anlass erfährt. Eigenartig konturlos bleibt auch das Ich dieser Aufzeichnungen. "Man findet keine Freude mehr daran, sich Bergformen einzuprägen", heißt es da etwa seltsam distanziert – für Mitherausgeber Harald Tausch ein Zeichen dafür, wie sehr hier bereits der Augenmensch Felix Hartlaub in Erscheinung tritt:
"Diesen Icherzähler, Sie sagen, den gäbe es nicht, das sehe ich eigentlich anders, nur gewinnt er eben Kontur weniger als Wanderer, man sieht nicht die ganze Gestalt , also er ist nicht integrierter Teil der Gruppe, sondern er ist eben dieses weit offene Auge, […], ein Kameraauge, das sich als solches nur schwer beobachten lässt oder eben nur im Modus seiner Wahrnehmung, die die Farbigkeit, die Farbigkeit sogar von Schatten sprachlich wieder zu erschaffen versucht, und daher vielleicht weniger Wert darauf legt, ich zu sagen."
Als ein solches Kameraauge hielt der junge Hartlaub die Eidechsen auf den Felsen ebenso fest wie die "staubigen" Farben der Mittagshitze oder die "rot gekleideten hageren Bäuerinnen" – ein in seinem Protokollcharakter sprödes, gleichwohl faszinierendes Lektüreerlebnis. Skeptische Distanz bewahrte Hartlaub gegenüber seinem Homer begeisterten Lehrer: Werner Mayer schwelgte im Anblick der Olivenbäume und terrassierten Bergabhänge und behauptete, diese "äschileische Landschaft" unmittelbar zu "verstehen". Dagegen notierte Hartlaub nur lapidar, ihm sei "das Wesentliche der Landschaft […] noch unklar."
Neben der Stimme seines Lehrers rang in ihm noch eine zweite um Gehör, die seines Vaters. Gustav Friedrich Hartlaub, der bedeutende Mannheimer Museumsdirektor, hatte seinem Sohn das kunsthistorische Sehen gelehrt. Für die Reise hatte er Felix mit dem Baedeker ausgerüstet. Die Lektüre des Tagebuchs zeigt, wie der Konflikt zwischen diesen beiden Perspektiven den jungen Felix Hartlaub dazu zwang, einen anderen, ganz eigenen Zugang zur Landschaft und Kultur Oberitaliens zu finden:
["Das sind diese beiden konkurrierenden Impulse, der Vater und der Lehrer, und ich finde, dass Felix mit beiden ringt, sich keinem dieser beiden Impulse anschließt und dann während der Reise eigentlich anfängt, Italien mit den Augen der modernen Malerei zu sehen, also man könnte sagen eventuell Cézanne, man könnte aber auch an die weniger bekannten Rohrfederzeichnungen Vincent van Goghs denken, die versuchen sozusagen mit schwarz-weißen Strichen die ganze Farbigkeit des Südens Frankreichs einzufangen, und ich glaube, Felix Hartlaubs Anliegen war, etwas Ähnliches mit Worten zu schaffen […], nämlich eine dynamische, eine von extremer Farbigkeit gekennzeichnete Landschaft und zugleich ihren tektonischen Aufbau in Worten sprachlich wieder zu erschaffen."
Hier, beim Schreiben dieses bislang unbekannten Reisetagebuchs, schlug die eigentliche Geburtsstunde des Autors Felix Hartlaub. Beim Besuch des Pisaner Camposanto am 8. Juni 1931 scheint der 18-jährige Schüler sogar regelrecht zu verschmelzen mit jenem todesmutigen Autor, der über ein Jahrzehnt später aus der Hölle des Sperrkreises berichten wird. Die Beschreibungen der Fresken vom Weltgericht mit den sich aus dem Leichenfeld reckenden Armen erscheinen dem nachgeborenen Leser wie eine epiphanische Vorahnung dessen, was auf Hartlaub und seine Mitschüler warten sollte.
Felix Hartlaub: Italienische Reise. Tagebuch einer Studienfahrt 1931. Mit Federzeichnungen des Autors. Herausgegeben von Nikola Herweg und Harald Tausch. Berlin: Suhrkamp, 2013, 100 S., 17,95 Euro (Bibliothek Suhrkamp)