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Geburt eines Bebens

Geophysik. - Neun schwere Beben haben seit 1939 den Norden der Türkei erschüttert, das jüngste traf am 17. August 1999 die Industriestadt Izmit, rund 100 Kilometer von Istanbul entfernt. Aus seinen Daten konnte jetzt erstmal die Entstehungsphase eines großen Bebens herausgefiltert werden. Vielleicht ein allererster Schritt, um eines Tages vor einem unmittelbar bevorstehenden Beben warnen zu können.

Von Dagmar Röhrlich |
    Vom Kaukasus bis nach Griechenland zieht sich eine Bruchzone durch die Erdkruste: die Nordanatolische Verwerfung. An ihr schrammen die afrikanisch-arabische und die eurasische Kontinentalplatte aneinander vorbei. Dabei verhaken sich die beiden, Spannungen bauen sich auf, die sich immer wieder in starken Beben lösen:

    "Die Nordanatolische Verwerfung ist ein wirklich außergewöhnliches Studienobjekt für die Seismologen. Zwischen 1939 und 1999 hat es neun schwere Beben gegeben. Deshalb wird ihre seismische Aktivität seit Jahren sehr genau überwacht, und inzwischen haben wir einige wichtige Beobachtungen."

    Vor allem durch das jüngste schwere Beben, das sich am 17. August 1999 in Izmit ereignete. Dieses Beben gehört zu den am besten dokumentierten der Welt. Unter anderem hat die französisch-türkische Arbeitsgruppe um Jean Schmittbuhl von der Universität Straßburg die Daten ausgewertet.:

    "Es hat gedauert, die Teile dieses recht komplexe Puzzle zusammenzubekommen, aber jetzt ergeben sie ein Bild."

    Das Bild, wie ein Erdbeben entsteht - in Echtzeit. Die Seismometer zeichneten schon eine Weile vor dem Izmit-Beben Veränderungen auf: eine Art seismischer Tremor, bei dem sich die Krustenplatten extrem langsam gegeneinander bewegen. Dieser Tremor wird von einem anderem Phänomen begleitet:

    "Wir haben rund 40 Minuten vor dem großen Erdbeben kleine Beben beobachtet, die sich wiederholen. Bei mindestens 18 sind wir uns dessen sicher, aber wir haben insgesamt 40 gute Kandidaten."

    Dabei waren diese sich wiederholenden Beben allesamt sehr charakteristisch, erklärt Jean Schmittbuhl:

    "In den 40 Minuten vor dem großen Schlag kamen diese kleinen Beben in immer kürzeren Abständen, zuletzt im Rhythmus von Sekundenbruchteilen. Wir gehen davon aus, dass sie ein spezifisches Signal für die Erdbebenentstehung sind. Wir können beweisen, dass sie im Abstand von wenigen Metern entstanden. Alles spielt sich in einer eng umrissenen Zone ab."

    Dort löste sich auch das Beben selbst, und zwar in einem Umkreis von wenigen hundert Metern um das Ausgangsgeschehen:

    "Man kann sich den Beginn des Bebens an der Störung selbst wie einen Schlitten vorstellen, an dem man zieht. Zuerst muss man ziemlich viel Kraft aufwenden, aber einmal in Fahrt, zieht er sich leicht. An der Kontaktfläche zwischen Kufen und der Oberfläche gibt es sehr viele Unebenheiten, die bei steigender Zugkraft eine nach der anderen verformt werden und nachgeben. Wird eine kritische Zahl von Unebenheiten überwunden, fährt der Schlitten los. Beim Erdbeben stehen die Vorläuferbeben für die Unebenheiten, und der schwere Erdstoß entspricht dem Moment, in dem sich der Schlitten in Bewegung setzt."

    Ob diese Beobachtung in ein Frühwarnsystem münden, ist noch offen. An der San Andreas-Verwerfung in Kalifornien wurden bei dem ebenfalls sehr gut überwachten Parkfield-Beben jedenfalls keine Vorläuferbeben beobachtet. Vielleicht war es jedoch einfach nur zu klein dafür:

    "Wir müssen abwarten, ob unsere Kollegen anderswo ähnliche Signale vor großen Beben finden. Und wir müssen für den Bereich der Nordanatolischen Verwerfung, an dem wir das nächste Beben erwarten, neue Daten erheben. Diese Zone befindet sich im Marmara-Meer, wenige Kilometer vor Istanbul. Das seismische Netzwerk ist bereits groß, aber es ist sehr schwierig, so schwache Signale aus dem Hintergrundlärm der Metropole zu filtern. Dafür müssen wir sehr präzise messen."

    Derzeit wird deshalb ein neues Seismometer-Netzwerk rings um das Marmara-Meer aufgebaut. Und dann bleibt abzuwarten, ob die Vorläuferbeben in Izmit nur ein Einzelfall waren, oder ob sich eine Regel daraus ableiten lässt.