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Geburtsstunde Europas

Im Mai 1950 bietet der französischen Außenminister Robert Schumann den Deutschen an, die Kohle und Stahlproduktion gemeinsam zu verwalten. Adenauer ist begeistert. Mit dieser Montanunion wurde der Vorläufer der heutigen europäischen Gemeinschaft geboren. Die Idee verschiedene Interessen in gemeinsamen Projekten zu einen wird zum Prinzip. 1951 schließen sich Italien und die Benelux-Staaten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl der EGKS an. Am 25 März 1957 unterzeichen dann die sechs EGKS-Mitglieder nach einigen Wirren um die europäische Verteidigungsgemeinschaft das Abkommen über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Die Anregung zur Schaffung eines gemeinsamen Marktes kam Anfang der 50 Jahre aus den Niederlanden, welche Bedeutung den römischen Verträgen damals wie heute zukam, beschreibt Kerstin Schweighöfer.

    Das Nationale Befreiungsmuseum der Niederlande in Groesbeek bei Nimwegen. Es steht ganz im Zeichen der deutschen Besatzungszeit, der Befreiung und des Wiederaufbaus Europas. Anhand von Filmen, Fotos und Rekonstruktionen wird die Vergangenheit wieder lebendig.

    Auch die Verträge von Rom werden behandelt. "Immerhin haben sie die Geburtsstunde Europas eingeläutet", erklärt Mitarbeiterin Ute Mulder. Die 63-Jährige ist gebürtige Deutsche. Dennoch führt sie im Befreiungsmuseum schon seit Jahren Gruppenführungen durch - das sei für die Niederländer kein Problem mehr:

    "Sie merken das natürlich nicht sofort, sie merken das, wenn ich länger spreche, so nach einer Stunde, und dann mein Namensschild. Ute ist natürlich kein holländischer Name, und also, bis jetzt habe ich nur positive Bemerkungen gehabt. Ja, das ist ganz toll."

    Zu verdanken sei dies nicht zuletzt den Rom-Verträgen, betont die charmante blonde Frau: Es ging damals nicht bloß um Kohle und Stahl, sondern auch um Frieden und Versöhnung. Ute Mulder weiss, wovon sie spricht: Vor mehr als 40 Jahren verliebte sie sich in einen Niederländer, mit dem sie immer noch verheiratet ist: der heute 75 Jahre alte Herman Mulder aus Nimwegen.

    Die Stimmung Deutschen gegenüber sei damals noch feindselig gewesen, erinnert sich der pensionierte Religions- und Deutschlehrer. Kein Wunder, die Menschen hier hätten unter den Deutschen gelitten. Noch in den 50er Jahren standen im Grenzgebiet Schilder mit dem Aufruf: "Deutsche nicht erwünscht!"

    Was erschwerend hinzu kam: Eigentlich hatte Herman sein Leben als Priester Gott weihen sollen. Doch zum Entsetzen von Familie und Freunden hing er das Priestergewand an den Nagel - und zwar nicht bloß für eine Frau, sondern auch noch ausgerechnet für eine Deutsche!

    Die Geschichte schien sich zu wiederholen. Es war wie bei Utes Großvater, der sich als deutscher Soldat in Flandern 1918 in ein Mädchen aus Brügge verliebt hatte:

    "Das war nämlich ein großes Problem in Flandern, ein deutscher Soldat durfte mit einem flandrischen Mädchen nicht umgehen, das war eine sehr komplizierte Sache, da hat das flandrische Standesamt die Ehe geschlossen, ohne sich weiter rückzuversichern, und da hat die Stadt Brügge eine große Strafe noch bekommen, denn sie durften keine Ehe schließen zwischen einem Deutschen und einer Belgierin."

    Ute Großvater wandte sich schließlich an das deutsche Reich mit der Bitte, heiraten zu dürfen; die Erlaubnis bekam er erst, als seine Eltern dafür Garant standen, dass er seinen Kindern in Deutschland eine deutsche Erziehung geben würde.

    Soviele Steine wurden seiner Enkelin 50 Jahre später nicht mehr in den Weg gelegt.
    Mitte der 60er Jahre hatten sich die Beziehungen so entspannt, dass Ute und Herman Mulder ohne bürokratische Hürden heiraten konnten:

    "Das ist natürlich schon ein ganz deutlicher Unterschied, wir haben keine Probleme gehabt, da haben die Verträge schon durchgewirkt."

    Selbst waren die beiden von Anfang an überzeugte Europäer. Als Student wurde Herman einst niederländischer Sieger bei einem europäischen Aufsatzwettbewerb. Sein Thema: "Die Niederlande - mein Vaterland, Europa meine Zukunft".

    Er gewann eine Schiffsreise auf dem Rhein und lernte zum Abschluss in Brügge zusammen mit den anderen Gewinnern Robert Schumann kennen. "Er war wie ein Gott für uns", erinnert sich Herman. "Und Europa seine Mission".

    Zwar konnte sich damals noch keiner vorstellen, dass sich Spanien oder Griechenland jemals anschließen würden. Doch die Europa-Euphorie sei riesengroß gewesen. Nur durch ein vereintes Europa, so hieß es, könne dieser Kontinent gerettet werden, dann würde es keine Kriege mehr geben.

    Von dieser Begeisterung ist auch in den Niederlanden nicht viel übriggeblieben. Eine gefährliche Entwicklung, finden die Mulders. Was vor 50 Jahren begann, müsse zu Ende gebracht werden:

    Europa habe den Menschen den äußeren Frieden gebracht - und damit auch den inneren. Das dürfe niemals vergessen werden.