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Gedächtnis der Shoah

Diejenigen, die es geschafft haben, die deutschen Vernichtungslager zu überleben, sind inzwischen in einem Alter, in dem sie irgendwann eines natürlichen Todes sterben. Weil aber nichts eindringlicher ist, als die Erinnerungen direkt Betroffener, ist es um so wichtiger, ihre Erzählungen zu bewahren. Im "Ort der Information" neben dem Berliner Holocaust-Mahnmal sind nun Berichte Überlebender zu sehen.

Von Jens Rosbach | 09.09.2008
    Kamera läuft. Ein Holocaust-Überlebender berichtet über seine Erlebnisse in einem Außenlager des KZs Auschwitz-Birkenau.

    "In dem Lager fing zum ersten Mal das Fleckfieber an. Aber wir hatten natürlich keine Krankenbaracke, wir hatten nichts. Wer fleckfieberkrank wurde - das war Todesurteil. Und dann ging es auf Transport nach Birkenau. Und in Birkenau bekam man als erstes natürlich die Auschwitz-Häftlingsnummer."

    Der über 70-Jährige krempelt das Hemd an seinem linken Arm hoch: hier die eintätowierte, kaum verblasste Zahl. Der Beweis.
    "Das ist hier 159 9 5 2. "

    Dieses Computer-Video - und weitere 81 digitalisierte Zeitzeugen-Filme - sind nun in der Ausstellung des Berliner Holocaust-Mahnmals zu sehen. Sie stammen aus dem Fortunoff-Archiv der Yale-University und unterscheiden sich vom Material, das Steven Spielberg sammelt. Der amerikanische Regisseur und seine Shoah Foundation zeichnen seit 1994 Interviews mit Überlebenden auf. Der Fortunoff-Bestand sei wesentlich älter, berichtet Projektleiter Daniel Baranowski von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas.

    "1979 haben die in Yale angefangen. Dadurch sind die Überlebenden, die da sprechen, noch sehr jung. Also noch in ihren 40ern. Außerdem sind die Interviews, die in Yale geführt worden sind, nicht so standardisiert, wie die Interviews des Shoah-Instituts, sondern sind offen geführt worden, die Leute konnten erzählen, es gibt relativ wenig Nachfragen, so dass sozusagen der Erinnerung Raum gelassen wird."

    Laut Baranowski verdeutlicht das freie Erzählen, wie Erinnerung tatsächlich funktioniert. Seine Beobachtung: Die Interviewten berichten häufig nicht chronologisch, sondern sprunghaft und emotional.

    "Es gibt zum Beispiel ein Interview mit einem deutschen Juden, der sehr früh schon beginnt, von seinem Vater zu erzählen und in diesem Interview, es ist fünf Stunden lang, taucht der Vater immer wieder an markanten Stellen auf. So das am Ende des Interviews übrig bleibt: Es ging diesem Überlebenden darum, seinen Vater, der nämlich nicht überlebt hat, zu ehren."

    Die Fortunoff-Aufnahmen unterscheiden sich nach Ansicht des Experten auch von Claude Lanzmanns Film "Shoah", einer neunstündigen Dokumentation aus dem Jahre 1985.
    "Der Film von Claude Lanzmann ist ja kein Dokumentarfilm im herkömmlichen Sinne, sondern hat ja einen künstlerischen Aufbau. Die Videos sind sehr viel stärker inszeniert, weil die Zeugen an die Orte der Verfolgung zurück gebracht werden oder aufgefordert werden bestimmte Situationen nachzuspielen. Es handelt sich bei Lanzmanns Shoah um ein Konglomerat aus unterschiedlichen Zeugenstimmen. Während wir hier immer das komplette Interview für sich stehend haben."

    Das Berliner Denkmal für die ermordeten Juden zeigt in seinem unterirdischen "Ort der Information" auch die Transkription der Interviews. Die zumeist hebräischen und englischen Original-Texte wurden übersetzt und anschließend mit den entsprechenden Videosequenzen verknüpft. So wird ein schnelles Recherchieren am Computer möglich. Drei Jahre lang hat die Denkmal-Stiftung das Film-Material aufgearbeitet, zeitweise waren mehr als 80 Techniker, Übersetzer und Historiker daran beteiligt. Gesamtkosten: Rund 500.000 Euro. Hauptsponsor: die Kulturstiftung des Bundes. Der derzeitige Bestand von 82 Filmen soll bald auf das Zehnfache anwachsen. Geoffrey Hartman, der das Fortunoff-Archiv in Yale mit begründet hat, ist begeistert: Die emotionalen Zeitzeugen-Berichte, so der Professor, ergänzten das Berliner Holocaust-Mahnmal mit seiner Ausstellung besonders gut.

    "Eisenmanns Denkmal in seiner eindringlich zurückhaltenden, nicht-figurativen Art, die historische Präsentation in der Ausstellung mit all ihren realistischen, entsetzlichen Details, und die anrührenden, persönlichen Geschichten aus dem Fortunoff-Archiv, durch die in der Stiftung geleistete Erschließung zugänglich gemacht auch für ein Laienpublikum - gerade zusammen können diese drei Angebote ein Erinnerungs-Feld schaffen, in dem der Verstand nie die Gefühle verdrängt, aber auch die Gefühle nie den Verstand ausschalten."