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Gedenken
Modernisierte Erinnerungskultur im Stadion

"Nie wieder!“ Diese Botschaft der Überlebenden des KZ Dachau haben Fans vor zehn Jahren aufgegriffen und den Erinnerungstag im deutschen Fußball ins Leben gerufen.

Von Ronny Blaschke | 05.01.2014
    Der Holocaust-Überlebende Ernst Grube auf einem Bild (links) vor einem Overhead-Projektor mit einer Projektion, die an die Wand gestrahlt wird.
    Der Holocaust-Überlebende Ernst Grube (Deutschlandfunk / Ronny Blaschke)
    Seit zehn Jahren werden rund um den Holocaust-Gedenktag am 27. Januar Veranstaltungen und Aktionen in den Stadien durchgeführt. Den Jahrestag dieser Initiative begeht das Bündnis am kommenden Wochenende auf einer großen Tagung in Frankfurt. Im Zentrum steht die Frage, wie sich Fußball für Erinnerungskultur und Antidiskriminierungsarbeit nutzen lässt.
    Die KZ-Gedenkstätte Dachau vor den Toren Münchens. In einem Seminarraum spricht der Holocaust-Überlebende Ernst Grube vor jungen Mitgliedern der Gewerkschaft Ver.di. Grube war von den Nazis als "Halbjude“ eingestuft worden. Er verbrachte einige Jahre im Kinderheim, bevor er im Februar 1945 ins Ghetto Theresienstadt deportiert wurde. Der 81-Jährige schildert seine Erinnerungen bis zu 100 Mal im Jahr, in Schulen, Kirchen, Vereinsheimen.
    "Wir sind erst Ende Juni 1945 zurückgekommen. Und dann habe ich gern Fußball gespielt. Dann habe ich vom Trainingsplatz von 1860 München erfahren in der Grünwalder Straße. Und bin eigentlich gleich angenommen worden. Ich habe dann doch zwei Jahre hier sehr viele Gemeinsamkeiten erfahren. Es war halt immer eine Atmosphäre, wo ich das Gefühl hatte: da gehöre ich dazu.“
    Jahrelang hatte Ernst Grube Ausgrenzung und Demütigung erlebt. Nach dem Krieg konnte er durch den Fußball sein Selbstwertgefühl stärken und Kontakte knüpfen. Diesen Neuanfang erwähnt er vor allem gegenüber Jugendlichen, um einen Bogen zu spannen aus der Vergangenheit in die Gegenwart. Auf Einladung der Fangruppe „Löwenfans gegen Rechts“ spricht Grube auch vor Nachwuchsfußballern von 1860 München. Oft mit enttäuschendem Ergebnis, wie er findet.
    "Es war immer so, dass die von fünf bis sechs trainiert haben. Und dann von halb sieben bis acht Uhr haben wir das Gespräch gemacht. Es kommt kein Gespräch zustande. Es ist fast wie eine Pflichtaufgabe. Die Wirkung meines Vortrages kann ich ja nicht nachvollziehen. Ich komme ja mit den Leuten nicht mehr zusammen. “
    2010 hatte die Wochenzeitung Die Zeit bei TNS-Infratest eine Befragung von Jugendlichen ab 14 Jahren in Auftrag gegeben. Es kam heraus, dass sich mehr als zwei Drittel der Befragten für den Nationalsozialismus interessieren. Allerdings fühlen sich vierzig Prozent genötigt, Betroffenheit zu zeigen, sobald sie auf den Holocaust angesprochen werden. In diesem Spannungsfeld werden am kommenden Wochenende 300 Fans, Aktivisten und Zeitzeugen wie Ernst Grube nach Antworten suchen. Wie kann die Massenbewegung Fußball Teil einer zeitgemäßen Gedenkkultur sein? Lorenz Peiffer, Sporthistoriker an der Universität Hannover, hat dieses Thema oft diskutiert, zuletzt im 2012 erschienenen Sammelband "Sportler im Jahrhundert der Lager“.
    "Man muss Geschichte intimisieren, das heißt: man muss Menschen Gesichter geben. Es hilft uns überhaupt nicht weiter, wenn man mit irgendwelchen Zahlen operiert: 500000 Juden, die hier in Deutschland noch 1933 gelebt haben – nach 1945 so gut wie keine mehr. Aber wenn man die Geschichten von Menschen erzählen kann, Gesichter wieder identifizieren kann, dann wird Geschichte erfahrbar. Und ich erlebe das bei meinen Studenten. Es müssen damals keine herausragenden Sportler gewesen sein. Meine Sportstudenten sind auch nicht alle herausragende Sportler. Wir haben natürlich einige dabei. Aber wenn ich ihnen das an Namen deutlich machen kann, deren Schicksale aufzeigen kann. Dass sie Sportler gewesen sind, genau wie sie selbst, und dass sie dann aufgrund einer anderen Konfessionszugehörigkeit, die die Nazis als Rassismus ausgelegt haben, dann aus dem Verein ausgeschlossen wurden, das ist für sie nachvollziehbar und das bewegt auch etwas in den Köpfen.“
    Lorenz Peiffer wird zum zehnten Erinnerungstag einen von neun Themenworkshops leiten. Experten diskutieren über den Arbeiterfußball Anfang des 20. Jahrhunderts, über rechte Hooligans in Polen oder über Prävention gegen Rassismus. Einen solchen Kongress hat es noch nicht gegeben. Ein ehrenamtliches Netzwerk hat Monate lang um Sponsoren, Partner, Referenten geworben. Der Anstoß zu dieser Kampagnenarbeit kam aus Italien. Dort hatte Riccardo Pacifici, Präsident der Jüdischen Gemeinde in Rom, Gedenkaktionen in die Stadien gebracht. Aktivisten der Versöhnungskirche Dachau haben diesen Anspruch 2004 und 2005 auf die deutschen Arenen übertragen. Ihr Netzwerk wächst bis heute. In Frankfurt werden auch DFB-Präsident Wolfgang Niersbach und DFL-Präsident Reinhard Rauball zum Thema sprechen. Ihre Familiengeschichte soll junge Fans zum Nachdenken anregen. Wolfgang Niersbach:
    "Mein Vater war Jahrgang 1915, er ist wie wohl alle Männer dieser Generation als Soldat eingezogen worden. Ich weiß, dass er die Ausbildung in Insterburg, dem damaligen Ostpreußen, in der Kavallerie gemacht hat, danach in Norwegen und anschließend in englischer Kriegsgefangenschaft war – viel mehr weiß ich nicht. Ich bin 1950 geboren, gehöre aber auch zu der Generation, die mit dem Vater, mit den Eltern, wenig bis gar nicht über diese Zeit gesprochen hat. Im Nachhinein bedauere ich es. Also in meiner Schulzeit zwischen 1960 und 1970 ist dieses Thema bei weitem nicht so in der Öffentlichkeit gewesen, auch nicht so diskutiert worden, wie das gerade aktuell der Fall ist.“
    Es ist wenige Jahre her, dass Traditionsvereine ihre Archive geöffnet haben für eine Aufarbeitung ihrer Rolle im Dritten Reich. Schon länger suchen Museen und Gedenkstätten nach einer neuen Geschichtsvermittlung, da die letzten lebenden Zeitzeugen während der NS-Zeit Kinder und Jugendliche waren. Ernst Grube aus München ist sich bewusst, dass sich seine Wahrnehmung verändern kann, mit jeder Resonanz seines Publikums. Grube will in Frankfurt mit vielen Fans ins Gespräch kommen.
    "Und da spreche ich auch wie andere Überlebende. Jeder Vortrag ist in einem bestimmten Grad ein neues Erleben. Wir müssen aufpassen, dass es nie zur Routine wird.“