Donnerstag, 25. April 2024

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Gedenkjahr 2005 - 60 Jahre nach Kriegsende

Beatrix Novy: Der vielstimmige Alltag des Krieges. In Kürze wird der vierte Band von Walter Kempowskis "Echolot" veröffentlicht, der Abschluss einer gewaltigen Sammlung von Dokumenten der Kriegszeit. In diesem vierten Band geht um die Wochen vor und nach der Kapitulation. Die Erinnerung an die NS-Zeit hat in den letzten 60 Jahren immer neue Schwerpunkte gesetzt, neue Aspekte zu Tage gefördert. Auch jetzt, vor dem Jubiläumsjahr des Kriegsendes. Noch ist nicht viel zu spüren von diesem Gedenkjahr. Ich habe Walter Kempowski gefragt, ob die Bewertung da immer noch eine Rolle spielt. War denn 1945 nun Niederlage oder Befreiung für die Deutschen?

Moderation: Beatrix Novy | 28.12.2004
    Walter Kempowski: Ich weiß nicht, was man mit "die Deutschen" meint. Es gibt doch viele Menschen, für die das Kriegsende eine unglaubliche Katastrophe war,
    und selbstverständlich empfinden die das Kriegsende als eine schwere Niederlage. Denken Sie an die Flüchtlinge aus dem Osten, meinen Sie, dass die sich befreit gefühlt haben? Oder an die ganzen Menschen, die Haus und Hof verloren haben durch den Bombenkrieg oder an die vielen zig Tausenden, ja Hunderttausenden von Gefangenen in Russland. Für die war das keine Befreiung. Und heute ist bei jungen Leuten der Krieg ja auch in Vergessenheit geraten, die empfinden beim Jahrestag 1945 wahrscheinlich gar nichts mehr.

    Novy: Ist das richtig?

    Kempowski: So ist es eben. Wer denkt denn heute noch an Napoleon oder den 30jährigen Krieg? Das ist eben so. Die Welt dreht sich. Denken Sie alleine heute an die vielen zig tausend Toten im indischen Ozean, die da von der Flutwelle ergriffen wurden. Das ist Menschenschicksal. Das Gedächtnis der Menschen bezieht sich immer nur auf das ganz persönlich Erlittene beziehungsweise Erlebte.

    Novy: Das ist natürlich zwiespältig und vielfältig, das haben Sie immer betont und so auch 1945. Was erwarten Sie von diesem 60. Jubiläumsjahr?

    Kempowski: Ich erwarte natürlich - abgesehen vom persönlichen Ereignissen -, dass zum Beispiel mein letztes Echolot gut aufgenommen wird und seine Stellung behaupten kann, die es in diesem Zusammenhang beanspruchen kann.

    Novy: Nun haben ja besonders Sie viel dafür getan, dass eben nicht vergessen wird. Was wäre denn angemessen für ein solches Gedächtnisjahr?

    Kempowski: Angemessen ist zum Beispiel, wenn sich die Schulen damit befassen und die Universitäten mehr über den letzten Krieg arbeiten, besonders über das Kriegsende. Aber es geschieht ja alles, oft auch bis zum Überdruss. Wenn Sie in diesen Tagen oder Wochen das Fernsehen einschalten, da ist ja auch ununterbrochen der zweite Weltkrieg angesagt.

    Novy: Was halten Sie denn generell von den Kriegs- und NS-Dokumentationen, die ja fast alle nach dem selben Strickmuster, also immer alte Filmaufnahmen und Zeitzeugen, über den Bildschirm gehen?

    Kempowski: Es ist die grundsätzliche Schwierigkeit, Geschichte überhaupt darzustellen. Am besten geschieht das über das Buch. Sie wissen ja, dass ich über 8000 Tagebücher und Autobiographien gesammelt habe und für mich ist immer die am besten entsprechende Darstellung die Autobiographie, das eigenen Erinnern. Von diesen Tagebüchern sollte man ruhig noch viel mehr veröffentlichen.

    Novy: Diese Tagebücher und überhaupt ihre ganze Sammlung gehen ja nun bald an die Berliner Akademie der Künste.

    Kempowski: Bisher ist ein großes Schweigen im Walde. Irgendwer ist initiativ geworden, wir platzen hier aus allen Nähten, ich weiß gar nicht mehr wohin damit. Ich bin ja schon froh, dass ich diese ganze Sammlung auch im Hinblick auf mein fortgeschrittenes Alter in ein anständiges Archivgebäude gebe.

    Novy: Aber es ist doch beschlossene Sache?

    Kempowski: Noch nicht ganz. Das läuft noch.

    Novy: Sollte es aber so weit sein, fürchten Sie dann nicht den leeren Raum um sich herum?

    Kempowski: Ich habe ja eine Frau, ich bin ja verheiratet, was glauben Sie, was die mir Beine macht hier! Dann haben wir Familie und Hühner haben wir. Es gibt jeden Tag etwas zu tun. Das ist doch ein erfülltes Leben, so steht es immer in Todesanzeigen, das habe ich wirklich.

    Novy: Das hört sich ja nun so an, als wollten Sie womöglich gar nicht mehr weiter sammeln.

    Kempowski: Doch, ich kriege jeden Tag zwei bis drei Einsendungen.

    Novy: Sie werden das schon noch fortführen, auch wenn Ihre Sammlung demnächst mit Lastwagen abgeholt wird.

    Kempowski: Dann werden wir es wahrscheinlich so machen, dass die Dinge von mir hier empfangen werden und dann weiter geleitet nach Berlin.

    Novy: Werden Sie sie noch lesen?

    Kempowski: Ja, so was lese ich immer, wenn mir Briefe oder Berichte geschickt werden.

    Novy: Ganz hört er also nicht auf, der Schriftsteller Walter Kempowski.