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Gedichte in Miniformat

Czernins Werk verzichtet dabei auf populäre Themen á la "Menschliches, Allzumenschliches". Es dreht sich vielmehr um Sprache und abstrakte Konstruktionen des Ichs. Dabei geht es dem Autor besonders um poetische Denkweisen.

Von Enno Stahl | 29.08.2005
    Aphorismus im Griechischen bedeutet "Bestimmung, Abgrenzung". Schon das lässt ahnen, dass der klassische Aphorismus wenig mit den allzu beliebten Wortspielen, Kalauern und Schmunzelsätzen zu schaffen hat, von denen es in den gängigen Comedy-Formaten nur so wimmelt.

    Der Aphorismus steht als reflektierender Sinnsatz zwischen Literatur und Philosophie, er deutet auf etwas hin, ohne es direkt auszusprechen. Häufig besteht er aus einem einzigen Satz, der rhetorisch überspitzt und pointiert formuliert ist.

    Trotz seiner Kürze und Abgeschlossenheit ist der Aphorismus insofern offen, als dass er den Leser zum Weiterdenken, zur Auseinandersetzung mit dem Geäußerten anregt. "Die Zukunft der Literatur liegt im Aphorismus. Den kann man nicht verfilmen.", witzelte der Satiriker Gabriel Laub.
    Tatsächlich widersetzt sich der Aphorismus einer leichten Goutierbarkeit. Im gehetzten Stakkato der Jetztzeit, wo vielerorts "speedreading"-Kurse für ein noch schnelleres Einverleiben von Texten angeboten werden, macht ihn das zu einem Anachronismus. Heute liest man 1:1, der Satz muss deckungsgleich mit sich selbst sein.

    Von daher gehört schon eine Portion Opfermut dazu, wenn ein Verlag angesichts des Turbo-Buchmarkts einen Aphorismen-Band heraus gibt, der nicht mit gefälliger Einfachheit und Zeitgeist-Attitüde kokettiert. Selbst wenn der Autor Franz Josef Czernin wohlbekannt ist, dürfte seine Sammlung von rund 2000 Kurz- und Kürzestkommentaren nicht eben leicht an den Leser, die Leserin zu bringen sein.

    Zumal sein Werk "das labyrinth erst erfindet den faden" auf populäre Themen à la "Menschliches, Allzumenschliches", mit denen der gemeine Kalenderspruch aufwartet, vollständig verzichtet. Czernins Buch dreht sich vielmehr um Sprache bzw. abstrakte Konstruktionen des Ichs. Es steht damit in der Nachfolge Wittgensteins "Philosophischer Untersuchungen", obwohl Czernins eigentlicher Recherchegegenstand - darin Novalis’ Fragmenten ähnlich - die "poetische Sprache" ist.

    Ihm geht es, so betont er in seinem Nachwort, um bestimmte "poetische Denkweisen": jeder einzelne Aphorismus "verweist auf ihm vorhergehende oder ihm nachfolgende, doch ihre Beziehungen zueinander sind nicht eindeutig, sondern vielfältig". Es entstehe so etwas wie "ein Organismus des Denkens", der aus sich selbst heraus wachse und wuchere.

    Somit sind viele der Czernin’schen Sinnsätze eng miteinander verklammert, scheinen wechselseitig auseinander hervor zu gehen. Leichte Verschiebungen in Grammatik oder Wortwahl, ja, eine regelrechte Wortkombinatorik lässt Bedeutungsvarianten aufblitzen, die sich gegenseitig kommentieren, bisweilen auch konterkarieren:

    "Aphorismus: etwas behaupten, damit man es für wahr halten kann, und etwas für wahr halten, damit man es behaupten kann."

    Bisweilen funktioniert das wie eine Text-Maschine, durch quasi mathematische Tauschprozesse werden die Wortvariablen umgestellt, verschoben, ersetzt, so dass immer neue Facetten aufscheinen:

    "Museum: durch die Dinge, die älter sind als du selbst, erkennst du dich jetzt als das, was sie einst hergestellt hätte.
    Museum: erst durch dich erkennen die Dinge, die älter sind als du, was sie einst hergestellt hat.
    Museum: durch die Dinge, die älter sind als du selbst, erkennt dich das, was sie hergestellt hat."

    Das ist hochkompliziert und verlangt ein penibles Lesen, Nach-Lesen, Nach-Denken, um überhaupt die Sinnunterschiede ädaquat zu erfassen. Ein gewichtiger Aspekt dieser Verfahrensweise Czernins ist nämlich, dass durch seine beinahe unmerklichen Interventionen und Manipulationen völlig andere Perspektiven eröffnet werden, differente, ja, teils konträre Philosophie-Traditionen Ausdruck finden. Argumentiert Czernin zumeist aus einer nominalistischen Position heraus, bricht er diese Sichtweise auch immer wieder auf:

    "Permutation: Wäre der Name notwendig, dann wäre er das, was ihn trägt; wäre das, was einen Namen trägt, notwendig, dann wäre es sein Name."

    Gerade bei seinem bevorzugten Sujet, der Poesie, erfindet Czernin stets neue Zugänge:

    "- Poesie: alle Wege führen nach Rom, aber nur wenige führen so nach Rom, dass wir erkennen können, dass und wie alle Wege nach Rom führen.
    - Poesie: das Pferd reitet den Reiter so, dass der Reiter das Pferd so reitet, dass das Pferd...
    - als wäre es die Aufgabe der Poesie, einzelne Dinge oder Vorgänge zu beschreiben, und nicht vielmehr den komplexen Gegenstand, den wir ich nennen, so zu konstruieren, dass nur ein Aspekt der Konstruktion in der Beschreibung von Dingen oder Vorgängen besteht.
    - Poesie pure: als könnte jede deiner Deutungen ein Teil des Gedichtes werden, bis nichts von dir bleibt, als die reine Möglichkeit zu deuten."

    Die Schwierigkeit der Beziehung zwischen Gedicht und Autor fasst Czernin häufig in solch metaphorisches Gewand, um das kaum Sagbare darzustellen. Da Dichtung eine Form der Selbstbeobachtung ist, führt er dazu aus:

    "Selbstbeobachtung: als ob das Glas das Wasser erkennen könnte, das es enthält.
    Selbstbeobachtung: das Wasser ist selbst das Gefäß, das es enthält."

    Mit diesen lakonischen Worten spricht Czernin dem Menschen (und damit auch dem Dichter) die Fähigkeit zur Selbstreflexion - aus erkenntnistheoretischen Gründen - ab. Und das Gedicht ist ein Gedicht ist ein Gedicht:

    "Poesie: das Fenster ist auch selbst das, was man durch es sehen kann.
    Ikone: der blaue Himmel, den wir durch dieses Fenster sehen, ist auch das Fenster selbst."

    Eine Interpretation von Gedichten ist daher vielleicht nicht möglich:

    "Wittgenstein: wir glauben nur deshalb, dass wir die Sprache von Gedichten verstehen, weil wir die Wirkung von Wörtern mit ihrem Gebrauch verwechseln."

    Aber die Interpretation geschieht nichtsdestotrotz, das resultiert zwangsläufig aus der menschlichen Subjektivität:

    "Genau dann, wenn man die Aussage, man wisse, dass man ein Mensch ist, nicht für sinnlos hält, kann man ein Gedicht verstehen."

    Diese komplexen Poetik-Sprengsel mögen nicht jedermanns Sache sein. Die unleugbare Stärke der Czernin’schen Miniformate ist aber, dass sich darunter immer wieder einzelne Exemplare finden, die ganz harmlos und unscheinbar daher kommen und dann doch fast alles zu erklären scheinen:

    "Ich kann tun, was ich will; deshalb muss es immer jemanden geben, der das Spiel verliert."

    Der Gang der Zivilisation wird mit diesen wenigen Worten im Kern begriffen. Denn es ist ja der Eigenwille der Vielen, die Summe divergierender Kräfte, die verhindert und immer verhindern wird, dass die Menschheit zu einem harmonischen Miteinander findet.

    Wer verfolgen mag, wie das "Ganze" mit einem Satz auf eine einzige Karte gesetzt wird, wer sich statt "speedreading" von einem Buch über einen längeren Zeitraum begleiten lassen möchte, dem sei Czernins Aphorismen-Werk empfohlen als eine Einübung in die Langsamkeit.

    Franz Josef Czernin: Das Labyrinth erst erfindet den roten Faden
    Hanser Verlag