Archiv


Geduldet, aber nicht anerkannt

Am 24. April 1915 wurden mehrere hundert Armenier in Istanbul aus ihren Häusern geholt und abgeführt. Es war der Auftakt zu einer gewaltigen Vertreibungsaktion, mit der sich das untergehende Osmanische Reich seiner armenischen Untertanen entledigen wollte. Der Todesopfer wird alljährlich am 24. April von den armenischen Gemeinden gedacht, die seither über die Welt versprengt sind. Susanne Güsten berichtet aus Istanbul.

    Sportunterricht am Esayan-Gymnasium, einer armenischen Schule in der Innenstadt von Istanbul. Im Schulhof schubsen und drängeln sich zwei Dutzend Fünfzehnjährige in adretten Schuluniformen, während ein älterer Schüler mit Fotoapparat von einem Fenster aus versucht, sie an den richtigen Standort zu dirigieren.

    "Wir versuchen, den armenischen Buchstaben E zu bilden, für ein Foto. E für Esayan, den Namen unserer Schule. Das Bild kommt auf Grußkarten für unsere Familien."

    340 Schüler besuchen die Esayan-Schule – eine von 16 armenischen Schulen in Istanbul. Außerhalb von Istanbul gibt es in der Türkei seit dem Ersten Weltkrieg keine armenische Schulen mehr – und auch fast keine Armenier. Die allermeisten der 80.000 im Land verbliebenen Armenier leben heute in Istanbul. Dass es sie überhaupt noch gibt, überrascht Außenstehende manchmal, sagt der Sportlehrer Armando Kozantino

    "Außenstehende wissen oft nicht, dass wir hier als Armenier leben können. Wir haben hier armenische Kirchen, armenische Schulen, das Recht auf armenische soziale Einrichtungen, wir haben auch einige Rechte und Freiheiten. "

    Einen völkerrechtlichen Anspruch haben die Armenier in der Türkei auf ihre Schulen und Kirchen, auf ihre Sprache und ihre Kultur. Er erwächst ihnen aus dem Friedensvertrag von Lausanne, den die Siegermächte des Ersten Weltkrieges 1923 mit der jungen Türkei abschlossen hatten. Auch das Grundrecht auf Gleichberechtigung garantierte die Türkei ihren christlichen Bürgern im Vertrag von Lausanne und in ihrer Verfassung. In der Praxis hapert es damit noch heute:

    Armenisch-Unterricht am Esayan-Gymnasium. Die 16-jährige Melissa müht sich an der Tafel mit den armenischen Verben ab. Keine Kleinigkeit ist das, wenn man bedenkt, dass die armenischen Verben nicht nur durch die verschiedenen Zeiten konjugiert werden, sondern auch durch unterschiedliche Perspektiven und sogar Stimmungen.

    Kein Wunder also, dass der Lehrer Garbis Herasanciyan öfter korrigierend eingreifen muss. Als türkischer Staatsbürger armenischer Herkunft darf Herasanciyan den armenischen Sprachunterricht erteilen. Anders ist das aber mit den Fächern Türkisch, Erdkunde und vor allem Sozialkunde, wie die Schuldirektorin Satenik Nisan erläutert:

    "Die Lehrer für die so genannten türkischen Kulturfächer werden uns vom Bildungsministerium zugewiesen. Nur die anderen Fächer dürfen von armenischstämmigen Lehrern unterrichtet werden. Außerdem gibt es an unseren Schulen stets einen türkischen Vize-Direktor, der leitet die Schule zusammen mit dem Direktor. Also, ich selbst bin Armenierin, aber Vize-Direktor muss immer ein Türke sein. Das bestimmt das Gesetz über die Minderheitenschulen."

    Türkische Lehrer und türkische Vize-Direktoren, wie es das Gesetz vorschreibt, das bedeutet im Klartext: moslemische Lehrer und moslemische Vize-Direktoren. Denn türkische Staatsbürger sind die Armenier von Istanbul schließlich auch. Eine bezeichnende Vorschrift, meint Raffi Hermon, der Vizevorsitzende des türkischen Menschenrechtsvereins und selbst Armenier:

    "Die Türkei macht damit unmissverständlich klar, dass sie die türkische Staatsbürgerin armenischer Abstammung, die dort Schuldirektorin ist, nicht als Türkin betrachtet, jedenfalls nicht als echte Türkin. Dass der Staat ethnisch türkische Vize-Direktoren in die Schulen der Armenier, Griechen und Juden schickt, um deren Direktoren zu beaufsichtigen, das zeigt, dass er die Angehörigen der nicht-moslemischen Minderheiten nicht als echte Staatsbürger anerkennt."

    Und diese Ausgrenzung erstreckt sich auch auf andere Lebensbereiche, etwa auf das Berufsleben. Warum es in Pangalti, dem Armenier-Viertel von Istanbul, so viele Zahnärzte, Autowerkstätten und Goldschmiede gibt, erläutert der armenische Mediziner Pakrat Estukyan, der dort selbst ein kleines Labor betreibt:

    "Die Armenier können in der Türkei traditionell nicht Beamte werden, sie können keine Soldaten werden und sie können keine Polizisten werden. Was für sie bleibt, sind nur die freien Berufe. Sicher, in der türkischen Verfassung heißt es, dass alle Bürger gleich sind vor dem Gesetz. Aber es gibt auch ungeschriebene Gesetze. Ein armenisches Kind wird etwa in einer Militärakademie einfach nicht angenommen. Die werfen einen Blick in die Personalakte und sagen: abgelehnt. Das ist weder gesetzlich noch verfassungsmäßig verankert, aber das wird so gehalten, und zwar systematisch."

    Aus Sicht des Menschenrechtsvereins ist dies das grundlegendste Problem der Armenier wie auch der anderen Minderheiten in der Türkei, sagt Raffi Hermon:

    "Was die Nicht-Moslems in der Türkei am dringendsten brauchen, das ist die Anerkennung als gleichberechtigte Staatsbürger des Landes. Solange wir nicht-moslemischen Staatsbürger nicht Gouverneur werden können oder Landrat, Diplomat, Polizist, Soldat oder Müllmann oder sonst ein verbeamterer Beruf oder Lehrer für Türkisch oder Erdkunde oder Sozialkunde – solange haben wir hier noch immer ein Problem. "