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Geduldete NS-Euthanasie

Während des "Euthanasieprogramms" der Nationalsozialisten wurden rund 200.000 Deutsche ermordet, weil sie psychisch krank, behindert, arbeitsunfähig oder Epileptiker waren. Häufig geschah das mit stillem Einverständnis der Angehörigen, schreibt Götz Aly.

Von Otto Langels | 18.03.2013
    "In dem Titel klingt auch mit, dass solche Menschen eine Last für andere sind, dass sie von manchen sogar als lästig empfunden werden. Wir sprechen von Soziallasten."

    Mit dieser Akzentverschiebung rückt der Autor eine Bevölkerungsgruppe ins Blickfeld, die in der bisherigen Literatur über die "Aktion T 4", wenn überhaupt, nur am Rande vorkommt: die Verwandten der Opfer. Was Götz Aly über die Organisation, den Ablauf und die Täter der NS-"Euthanasie" schreibt, ist aus den Arbeiten von Ernst Klee, Henry Friedlander oder Heinz Faulstich hinlänglich bekannt. Hier bietet Alys Darstellung keine neuen Erkenntnisse, streckenweise liest sie sich wie das Resümee seiner eigenen jahrzehntelangen Forschungen. Manches, worüber man gern mehr erfahren hätte, deutet er nur an, z.B. die Nachkriegskarrieren der Täter. Neu ist hingegen, dass er die Ermordeten, die im Allgemeinen nur als anonyme Opfer vorkommen, beim Namen nennt, um ihnen zumindest symbolisch ihre Würde zurückzugeben. Neu ist auch, wie der Autor die Rolle der Angehörigen sieht. Sie sind für ihn nicht nur Leidtragende, sondern auch Beteiligte.

    "Wenn ein psychiatrischer Patient aus Berlin verlegt wurde in eine Zwischenanstalt nach Neuruppin, dann war er da zwei bis vier Wochen. Und wenn Angehörige in dieser Zeit gesagt haben, wir wollen wissen, wo er ist und wir wollen da hin, konnten sie und haben durchgesetzt, dass der von der Vernichtung verschont wurde, vor der Gaskammer. Und es sind ganz beschämend wenig Angehörige, die das getan haben."

    Die Organisatoren der "Aktion T 4" versuchten durch Fragebögen mögliche Widerstände der Angehörigen bereits im Vorfeld zu eruieren, um dann notfalls die Anstaltsinsassen von den Todeslisten zu streichen. Diesen Spielraum hatten die Ärzte.

    "Auf dem Fragebogen stand nicht, ob derjenige, der da ermordet werden soll, erbkrank ist, die Frage kam nicht vor. Die vierte Frage war, wie oft erhält derjenige Besuch, und von wem?"

    Statistische Untersuchungen, auf die Götz Aly verweist, belegen, dass von den Patienten, die der NS-"Euthanasie" entgingen, rund 40 Prozent regelmäßigen Kontakt zu ihren Angehörigen hatten. Das traf bei den Ermordeten jedoch nur auf 20 Prozent zu. Das weitverbreitete Schweigen der Verwandten, ihre manchmal mehr als unterschwellige Zustimmung, so lautet Alys bedrückende Schlussfolgerung, erleichterte die Durchführung der Morde. Als Belege führt er Äußerungen betroffener Eltern an:

    "Ich war verzweifelt und jammerte. Ich habe Dr. Bayer flehentlich gebeten, mir zu helfen. Ich fragte Dr. Bayer, ob man einem derartigen Kinde nicht etwas geben könne, damit es einschlafe."

    "Ist es nicht traurig, dass man ein so armes Wurm am Leben erhält? Das kranke Kind lebt, und meine Frau geht zugrunde."

    "Es ist unser Wunsch, bald wieder ein gesundes Kind besitzen zu dürfen. Diese Erwartung würde uns zu unserem Leidwesen zunichtegemacht, würde uns das unheilbare Kind zwangsmäßig wieder zugeführt werden."

    Die Wünsche der Eltern stießen bei den Ärzten der "T 4-Aktion" auf offene Ohren. Sie zeigten sich als verständnisvolle Psychiater und waren zugleich Massenmörder, denen das NS-Regime die einmalige Gelegenheit bot, ihrem skrupellosen Forscherdrang nachzugehen und z.B. die Gehirne der Getöteten zu untersuchen. Die Mediziner waren, wie Götz Aly nüchtern feststellt, keine fanatischen Nazis, sondern zum Teil reformwillige Psychiater. Denn "die Vernichtung lebensunwerten Lebens" war keineswegs eine rein nationalsozialistische Forderung. Bereits 1920 hatten angesehene Gelehrte ein Manifest unter diesem Titel veröffentlicht, und 1934 forderte die internationale Vereinigung sozialistischer Ärzte den künstlich beschleunigten Tod "unheilbar Blödsinniger". So verstanden sich die Beteiligten der "Aktion T 4" durchaus als fortschrittliche Mediziner, wenn sie die Verlegung, d.h. die Ermordung behinderter Menschen anordneten.

    "Dieselben Kommissionen, die sagen, hier sind drei ganz schwachsinnige Menschen, die nicht arbeiten können, die wollen wir mal verlegen, die sagen, in dieser Anstalt werden Patienten noch geschlagen. Das muss man unbedingt abstellen. Es fällt im Wesentlichen auch auf, dass es junge und in ihrem Beruf engagierte und auch gute Ärzte waren. Das waren nicht einfach Schlächter."

    Eben jene engagierten Ärzte lieferten mit ihren erbbiologischen Ansichten den NS-Politikern Argumente für die ökonomische Begründung der "Euthanasie"-Morde. Joseph Goebbels rechnete zum Beispiel vor, dass es für die Volksgemeinschaft unerträglich sei, Hunderttausende vollkommen verblödete, für das praktische Leben gänzlich ungeeignete Menschen mitzuschleppen. Die "Aktion T 4" war das erste Kapitel des nationalsozialistischen Völkermords, aus dem – so Götz Aly – die NS-Führung die Lehre zog, dass sie ohne größere Probleme Großverbrechen planen und durchführen könne.

    "Jedenfalls war das die Erfahrung, die die NS-Führung mit den Deutschen gemacht hat in den ersten anderthalb Jahren des Krieges, dass es möglich war, mitten in Deutschland in sechs Gaskammern, die alle in Sichtweite von Städten, von Kleinstädten, von Wohngegenden standen, wo es roch nach Fleisch, nach verbranntem, dass die das hinnehmen."

    Nun ist es keine neue Erkenntnis, dass die "Aktion T 4" der Auftakt zum Völkermord an den Juden, Sinti und Roma war. Und dass die allermeisten Deutschen, so Götz Alys Fazit, sich in den Bannkreis des Bösen ziehen ließen, ist eine banale Feststellung. Dennoch hat Aly ein empfehlenswertes Buch geschrieben. Er liefert keine detaillierte Gesamtdarstellung, sondern konzentriert sich auf wesentliche Aspekte, scheut nicht vor prononcierten Thesen zurück und findet trotz des verstörenden Themas schonungslose und zugleich einfühlsame Worte.


    Literaturhinweis:

    Götz Aly: Die Belasteten. "Euthanasie" 1939-1945.
    Eine Gesellschaftsgeschichte.
    S. Fischer, 348 Seiten, 22,99 Euro
    ISBN: 978-3-10000-429-1