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Gefährdete Exoten in der Nordsee

Umwelt. - Wenn man an Korallen denkt, kommt einem sofort eine bunte Unterwasserwelt in warmen tropischen Gewässern in den Sinn. Aber: Auch in Europa gibt es Korallen. Die Europäische Union rief jetzt ein Forschungsprojekt ins Leben, um diese exotischen Lebensformen zu untersuchen. Vor wenigen Tagen kehrte eine der zuständigen Expeditionen von ihrer Fahrt in die Nordsee zurück. Doch die Forscher bringen schlechte Nachrichten von der Küste vor Südnorwegen.

Jens Wellhöner | 18.11.2003
    Auf dem Computerbildschirm ist der Meeresboden vor der Küste Südnorwegens ein buntes Durcheinander von Tälern, Bergen und Ebenen. Geologe Jens Greinert hat die Messdaten seiner letzten Expedition in eine dreidimensionale Karte umgesetzt. Die Landschaft Norwegens mit ihren Fjorden und steilen Gebirgen setzt sich am Meeresboden fort. Und in diesen riesigen Unterwassergebirgen haben die Forscher des Kieler GEOMAR-Instituts nach einzelnen kleinen Korallenriffen gesucht. Mit einem brandneuen Echolotgerät, das über hundert Schallsignale auf einmal in die Tiefe schickt und auch kleine Strukturen am Meeresgrund erkennt:

    Wir schreien sozusagen mit 126 Stimmen auf den Meersboden. Und wenn man in ein Tal hineinschreit, kommt es von verschiedenen Seiten zurück. Und das hat uns Probleme bereitet, dass wir die Daten extrem genau editieren mussten, damit uns nicht dort ein Riff vorgegaukelt wurde, wo gar keines ist.

    Aber die Suche hat sich gelohnt: In tiefen Tälern entdeckte das Echolot mehrere kleine Erhebungen, manchmal nur zehn Meter hoch:

    Diese Korallen sitzen in diesen Canyons drin, mehrere hundert Meter breite Canyons, mit senkrechten Wänden rechts und links. Und da wird die Strömung fokussiert und rauscht dann richtig durch diese submarinen Canyons durch.

    Die Korallen Nordeuropas leben in Tiefen um die 100 Meter, in fast völliger Kälte und Dunkelheit. Anders als ihre Verwandten in flachen tropischen Gewässern, denn die brauchen Sonnenlicht und Wärme. Mit winzigen Fangarmen filtern die Kaltwasserkorallen Plankton aus dem Wasser. Je stärker die Strömung im Unterwassercanyon, desto mehr Plankton wird angeschwemmt und desto besser sind die Lebensbedingungen der Tiere. Auf den Photos von Unterwasserrobotern sehen die Korallen aus wie kleine weiße Bäume mit extrem verzweigtem Geäst. Und am Ende der Zweige sind kleine rosa Blüten zu sehen. Ozeanograph Olaf Pfannkuche vom Geomar-Imstitut:

    Die Blüten, das sind die Zooiden, die Einzelkorallen. Die sind untereinander verbunden, die Äste sozusagen. Und der Baum ist dann schon fast Riff.

    Die Korallen bilden unter sich ständig Kalk. Auf diese Weise wachsen ihre Riffe in die Höhe und vor allem in die Länge. Bis zu 30 Kilometer lang werden sie vor der Küste Norwegens. Im Gegensatz zu ihren farbenprächtigen tropischen Verwandten sind die Kaltwasserkorallen Nordeuropas eher unscheinbar mit ihrer weißen Färbung. Aber für die Meerestiere in der Nordsee sind die Riffe Rückzugsort und Kinderstube in einem. Olaf Pfannkuche:

    Man hat an diesen Riffen bis zu 800 verschiedene Arten festgestellt. Das sind Fische, Stachelhäuter, Krebse, Würmer: Alle Arten, die im marinen Bereich vorkommen.

    Diese Artenvielfalt hat allerdings auch eine Schattenseite: Die hohe Zahl von Tieren hat den Menschen angelockt: Fischer, die mit riesigen Schleppnetzen in der Nordsee Dorsche fangen:

    Vor dem Netz sind die Scherbretter. Wenn sie noch klein sind, sind sie so groß wie Türen. Die pflügen über den Meeresboden. Und der sieht hinterher aus wie ein frisch gepflügter Acker.

    Bis zu 50 Prozent der Riffe sind vor Norwegen schon zerstört. Und weiter südlich vor der Küste Schwedens sieht es für die Korallen noch schlimmer
    aus:

    Es handelt sich nur noch um ein paar hundert Stöcke, die noch da sind. Alle anderen schwedischen Riffe sind nachweislich durch Fischereiaktivitäten abgestorben und beschädigt.

    Die Regierung Norwegens hat auf die Ergebnisse der Wissenschaftler schon reagiert und Schutzgebiete ausgewiesen.

    Interessanterweise haben wir diese Korallen außerhalb der projektierten Zone gefunden, und würden den Norwegern hier mit unseren Funden Entscheidungshilfe liefern, diese Zonen auszuweiten.

    Noch ist es also nicht zu spät für die Kaltwasserkorallen. Olaf Pfannkuche und seine Kollegen werden weiter für Schutzgebiete eintreten. Um die Artenvielfalt vor Europas Küsten zu erhalten.