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Gefährliche Fischwickel

"Fischwickel" gelten in der rustikalen Küche als eine äußerst schmackhafte Speise, die aber nicht für jeden leicht verdaulich ist. Besonders Schriftsteller sollten ihren Appetit zügeln. Denn zumindest die "Fischwickel", die nach den Rezepten der Münsteraner Literaturzeitschrift "Am Erker" zubereitet werden, könnten vergiftet sein. "Fischwickel" heißt nämlich eine freche Kolumne dieser Zeitschrift, die im 28. Jahr ihres Bestehens ihrem westfälischen Nischendasein erfolgreich entkommen ist.

Von Michael Braun |
    Angefangen hatte alles im Dezember 1977, als sich ein paar Germanistikstudenten aus Münster zusammentaten, um die literarische Welt von Grund auf zu verändern. Das Resultat war "Am Erker", ein anfänglich wild-assoziativ zusammen montiertes Blatt, das mit chaotischen Wimmelbildern, Comic-Ausrissen und allerlei Kurzprosa bestückt wurde, um den Konventionen des Literaturbetriebs etwas unzweifelhaft Rebellisches entgegenzusetzen. Es dauerte etwa zehn Jahre, bis man die germanistischen Witzeleien abgelegt und die subkulturellen Kinderkrankheiten überwunden hatte. Die Germanistik-Studenten wurden älter, entwichen in den Lehrerberuf oder versuchten sich als frei schwebende Intellektuelle.

    Aber es blieb genug ketzerische Energie übrig, um das Projekt "Am Erker" weiter zu betreiben und zu einem auf freche Abweichungsästhetik bedachten Literaturmagazin weiterzuentwickeln. Mittlerweile, nach 28 Jahren und 49 Ausgaben, hat sich "Am Erker" zum inoffiziellen Zentralorgan für phantastische Kurzgeschichten entwickelt. In einer opulenten Jubiläumsausgabe der Zeitschrift hat "Am Erker"-Redakteur Joachim Feldmann vor einiger Zeit eine kleine Poetik versteckt: "Warum", so Feldmann, "sollte sich ein Leser mit der detaillierten Schilderung fiktiver Lebensentwürfe auf vielen hundert Seiten abgeben, wenn eine Kurzgeschichte das fremde Schicksal in wenigen ausgewählten Sätzen darzustellen vermag?" Und diese Leidenschaft für Kurzgeschichten haben sich die Herausgeber bis heute bewahrt - und können nebenbei darauf verweisen, dass einige der profiliertesten Erzähler der Gegenwartsliteratur in "Am Erker" ihre ersten Geschichten veröffentlicht haben: Burkhard Spinnen und Georg Klein etwa, oder die in den letzten beiden Jahren bekannt gewordenen Autoren Markus Orths und Marcus Jensen. Zum aktuellen "Am Erker"-Heft, der Nummer 49, das im erzählerischen Schwerpunkt "Vom Essen und vom Trinken" handelt, steuert Markus Orths die makabre Geschichte eines Bäckermeisters bei, der sich die Bewohner seines Heimatdorfes mit drogenversetzten Backwaren gefügig macht. Marcus Jensen wiederum übt sich im wie stets angriffslustigen Rezensionsteil in der Kunst, einige Autorenkolleginnen argumentativ unsanft zur Ordnung zu rufen.

    Das Glanzstück der Zeitschrift ist jedoch die schon erwähnte Kolumne "Fischwickel", die aufgrund ihrer Vorliebe für Klatsch und Tratsch ein außerordentliches Lese-Vergnügen bereitet. In dieser mit Gerüchten gespickten Literaturbetriebs-Satire wird über das Verschwinden von Schnauzbartträgern und Pfeifenrauchern in der Literatur räsoniert. Des weiteren geht es um zahnlose "Königstiger der Prosalyrik", um junge Essayisten, deren Aufsätze "den Geist von zwanzig Jahre alten Gewerkschaftsreden versprühen", und sogar um einen historischen "Frisurentausch" zwischen Gabriele Wohmann und Friederike Mayröcker. Das ist alles sehr albern, aber es ermöglicht etwas, das wir im Literaturbetrieb fast ausgestorben wähnten: unzensierte Heiterkeit.

    Den Fischwickel und andere skurrile Literatur-Gerichte erhalten Sie bei: Am Erker, Dahlweg 64, in 48153 Münster. Die Nr. 49 umfasst 106 Seiten und kostet 7,50 Euro.