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Gefährlicher Mangel an kindgerechten Aids-Therapien

Medizin. - Der Anteil von Frauen und Mädchen an den HIV-Infizierten nimmt zu: Von 35 Prozent 1985 wuchs er auf 48 Prozent Ende 2003 an. Damit steigt auch die Zahl von Kindern, die mit dem HI-Virus infiziert sind. Jedes vierte Kind in den Entwicklungsländern stirbt in den ersten zwölf Monaten an Aids, etwa 60 von 100 Kindern mit HIV erreichen nicht das zweite Lebensjahr. Eine Behandlung ist komplizierter als bei Erwachsenen. Dabei steckt die Entwicklung von Medikamenten noch in den Anfängen. Hohe Preise und der Patentschutz erschweren die Behandlung von HIV-positiven Kindern zusätzlich, wie man auf der 15. Internationalen Aids-Konferenz in Bangkok erfahren musste.

    Die Behandlung von HIV-infizierten Erwachsenen ist heute dank fortgeschrittener Medikament vergleichsweise einfach, erklärt die Kinderärztin Myrto Schäfer von der Organisation "Ärzte ohne Grenzen": "Ein Erwachsener heutzutage, der HIV-positiv ist, schluckt zweimal am Tag Medikamente. Ein Kind ist aber kein kleiner Erwachsener. Es wächst heran, also muss die Dosis der Medikamente ständig dem Gewicht und dem Alter angepasst werden." Heute werden nur einige Hundert Kinder medikamentös behandelt - aus zahlreichen Gründen.

    Problem Nummer Eins: Es gibt keinen bezahlbaren Aids-Test für Säuglinge. Über 800.000 Kinder, so Schätzungen, sind allein im vergangenen Jahr mit HIV auf die Welt gekommen, die sich vor oder während der Geburt bei ihrer Mutter angesteckt haben. Ein herkömmlicher Test greift hier nicht. Denn normales HIV-Tests weisen nur Antikörper im Blut nach, doch die stammen beim Kind noch zu einem Großteil von der Mutter. Tobias Luppe von "Ärzte ohne Grenzen" erläutert, dass noch bis zum 18. Monat die Antikörper der Mutter überwiegen: "Es gibt Möglichkeiten, den HI-Virus auch bei einem Kind unter 18 Monaten nachzuweisen, das ist allerdings sehr kompliziert, sehr teuer und in Afrika überhaupt nicht anwendbar.

    Problem Nummer Zwei: Weil Säuglinge in armen Ländern nicht auf Aids getestet werden, findet auch eine medizinische Behandlung wenn überhaupt erst sehr spät statt. Tobias Luppe: "In diesem Stadium ist es schon viel, viel zu spät. Ganz viele Kinder müssen sterben, nur weil wir es nicht richtig diagnostizieren können und weil dann, wenn wir mit der Behandlung anfangen, alles sehr kompliziert wird."

    Das größte Problem ist aber: Es gibt keine Aids-Medikamente speziell für Kinder. Luppe erklärt diese Lücke so: "Kinder, die HIV-infiziert sind, stellen keinen Markt für die Pharmaindustrie dar. Es gibt in ganz Europa und Amerika zusammen etwa 1000 Kinder, die sich letztes Jahr mit HIV infiziert haben. Allein in Afrika waren es 700.000. Das ist genau der Unterschied: In Afrika leiden Hunderttausende von Kindern an einer Krankheit, die in Europa fast nicht stattfindet, und deswegen entwickelt die Pharmaindustrie keine Medikamente." Stattdessen müssen Ärzte in Afrika Mittel einsetzen, die nicht auf Kinder angepasst sind: Tabletten sind zu groß zum Schlucken, Sirups schmecken so bitter, dass die Kinder sie nicht trinken, und die Standard-Dosierungen sind für Kinder ungeeignet. "Es erfordert ein großes Expertenwissen und sehr viel Zeit und Geduld, Kinder zu behandeln", sagt Tobias Luppe. "Kinder, die an Aids leiden, zu therapieren, ist aber nicht nur viel komplizierter, es ist auch sehr viel teurer. Während Sie von den Originalherstellern durch freiwillige oder durch öffentlichen Druck erzwungene Preisnachlässe eine Standardtherapie mit etwas Glück für 600 Dollar bekommen kann, kostet genau die gleiche Therapie für Kinder über 2000 Dollar."

    Für ihre HIV-Medikamente nimmt die Pharmaindustrie außerdem einen hohen Patentschutz in Anspruch, der letztlich die Entwicklung einer kindgerechten und erschwinglichen Therapie verhindert, solange die großen Hersteller nicht selber aktiv werden. Für Tobias Luppe muss die Industrie jetzt handeln: "Wer argumentiert denn seit Jahren damit, dass hohe Preise und hoher Patentschutz notwendig ist, um wichtige neue Medikamente zu entwickeln? Das ist genau die Pharmaindustrie. Deswegen geben wir die Verantwortung jetzt auch an die Pharmaindustrie weiter: Wenn ihr so hohe Preise für eure Medikamente verlangt, wenn ihr hohen Patentschutz haben wollt, dann bitte liefert auch die Medikamente, die die Menschheit braucht."

    [Quelle: Martin Winkelheide]