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Gefahren des Glaubens

Religiöse Gemeinschaften haben einen Absolutheitsanspruch - doch das Zeitalter des Monotheismus scheint vorüber. Den einen Gott gibt es nicht mehr oder besser: Es gibt ihn nur noch für immer weniger Menschen. Friedrich Wilhelm Graf hat sich in seinem humorvollen Buch diesem Thema gewidmet.

Von Kersten Knipp |
    Es ist schwer zu entscheiden, ob der Münchener Theologe Friedrich Wilhelm Graf ein sehr pflichtbewusster Mensch ist oder einer der großen deutschen Humoristen. Vielleicht auch ein pflichtbewusster Humorist. Humor jedenfalls braucht er, wenn er die religiösen Diskurse von Vergangenheit und Gegenwart durchwandert, all den Anmaßungen und Ansprüchen auf der Spur, die die Menschen, wenn sie von den Göttern sprechen, so von sich geben.

    Einen solch großen Mund hat der Mensch, der religiöse zumal, entwickelt, dass die Götter dagegen schlicht machtlos sind. Gegen die Vereinnahmungsversuche großsprecherischer Propheten, bisweilen aber auch Theologen, können sie wenig oder nichts ausrichten, sind unfähig sich gegen ihre Indienstnahme durch den Menschen zu wehren. Mit Göttern lässt sich Missbrauch treiben - und zwar so sehr, dass man, wie Graf es im Titel seines neuen Buches tut, von "Missbrauchten Göttern" sprechen kann - missbraucht für den "Menschenbilderstreit in der Moderne", dem das Buch sich im Untertitel widmet.

    Der Missbrauch ist schon darum möglich, weil das Zeitalter des Monotheismus vorüber scheint. Den einen Gott gibt es nicht mehr oder besser: Es gibt ihn nur noch für immer weniger Menschen. Gott hat Konkurrenten bekommen: aus Asien, aus dem Orient, aus den USA und überhaupt den weltweit verteilten Sinnlaboren, die die aus Teilen des alten Gottes neue Götter zusammensynthetisieren.

    Einen wesentlichen Beitrag zur modernen Göttervielfalt setzt Martin Luther. Er hielt dem Gott der Katholiken einst entgegen, er sei nichts als ein "Kirchengott", also ein von den katholischen Institutionen sorgfältig gehüteter und darum sehr mächtiger Gott. Diesem Gott der frommen Apparatschicks sah Luther in steter Gefahr, zum "Lügengott", "Aftergott" oder "Fehlgott" zu werden. Andere protestantische Reformer erwähnen den "Stiefgott", "Nebengott", "Wahngott" und "Traumgott". Ließen sich hier noch Versuche erkennen, den einen Gott vor der eifersüchtigen Usurpation durch die eine Amtskirche zu schützen, so bekommt dieser Gott insbesondere seit 1800 Gesellschaft: Die Rationalisten feiern den "Vernunftgott", die "Allvernunft", den "absoluten Geist" und natürlich den vornehmsten Geist von allen, den "Weltgeist". Und wenn der immer noch auf dem Weg zu sich selbst ist, stellen sich ihm heute "Wohlfühl"- und "Wellnessgötter", "Spaßgötter" und seit einem guten halbe Jahrhundert schon der "Fußballgott" entgegen.

    Wo die Kirche ihre Vormachtstellung verliert, muss auch ihr Gott vom Feldherrenhügel abtreten. Die kriegerische Metapher passt. Denn von nun an herrscht ein regelrechter Kampf um die Götter, in dem jede Partei ihren eigenen Gott in Position zu bringen versucht, wie Graf erläutert:

    "Die monotheistischen Weltreligionen haben einen gemeinsamen Bestand an symbolischen Ressourcen. Aber diese symbolischen Ressourcen sind permanent umkämpft. Also, ein Begriff wie 'Gott' steht nicht fest, sondern wird von ganz unterschiedlichen Akteuren in Anspruch genommen, mit konkurrierenden Bedeutungsgehalten verknüpf. Und wir müssen Sensibilität für die hohe Interpretationsoffenheit religiöser Sprache entwickeln. Das ist sozusagen einer der Wege, um dort Aufklärung zu betreiben, zu sagen: Wie werden hier eigentlich religiöse Sprachmuster, religiöse Vorstellungen eingesetzt und mit welchen politischen Ordnungskonzepten werden sie verbunden?"

    Wenn Graf im Folgenden die Absolutheitsansprüche religiöser Gemeinschaften - allen voran die der beiden christlichen Kirchen - unter die Lupe nimmt, braucht er Humor nicht nur, um die Selbstgewissheit der Akteure verkraften zu können. Er greift auf ihn auch zurück, um den oft großmäuligen Propheten etwas entgegenzusetzen. An diesem Punkt zeigt sich Graf als entschiedener Sachwalter des aufklärerischen Erbes - einer Tradition, die den Zweifel kennt, allem voran den Selbstzweifel. Wo diese Tradition verloren geht, da herrscht vor allem der Donnergott, der laute, großsprecherische Gott oder besser: der Gott der lauten, großsprecherischen Propheten, teils dem Sinn, mehr aber noch der Macht und dem Mammon auf der Spur.

    "Zu den Schattenseiten der pluralistischen Moderne gehört es, dass gerade die Halbseidenen, Unseriösen ihre Marktnischen finden."

    Die verdanken ihre Auftrittsmöglichkeiten paradoxerweise einer der vornehmsten Eigenschaften der Moderne: der verbreiteten Gewohnheit, alles und jedes in Frage zu stellen. Wo aber nichts und niemand mehr als selbstverständlich gilt, steigt der Legitimationsbedarf - und den leisten, für viele Zeitgenossen jedenfalls, die Götter. Die Kontingenz schreit nach divinaler Bewältigung. Insofern, meint Graf, schafft auch die Moderne den Glauben nicht aus der Welt, im Gegenteil:

    "Die Religion ist eine ganz elementare Sinnressource des Menschen, und ich glaube nicht an irgendwelche Programme, erfolgreich die Religion aus der Welt zu schaffen. Also stellt sich nicht die Frage, ob Religion oder ob nicht, sondern die Frage, wie man mit religiösen Symbolen, Riten, Sprachressourcen umgeht. Da bin ich also ein liberaler Protestant sehr an der Humanisierung des Religiösen interessiert, aber Religion ist ein hochambivalenter Mentalstoff. Der kann zu Entgrenzungen führen. Er kann aber auch ein Medium der relevanten Selbstbegrenzung des Menschen sein. Und mich interessieren natürlich diese Selbstbegrenzungsstrategien."

    Durch Religion kann der Mensch sich selbst begrenzen. Aber nur dann, wenn er sich und seinen Glauben in Frage stellt, in den Worten Grafs: Wenn er sich historisiert. Was glaubt er warum? Macht er sich das klar, hat er einen Leitwert, ohne absolutistische Ansprüche, einen Glauben, der nicht, wie es so oft passiert in religiösen Dingen, zum Fetisch pervertiert, und die Stimmen der anderen gering schätzt - so gering, dass er in seiner härtesten Variante nicht einmal davor zurückschreckt, sie zum Schweigen zu bringen. Aber auch in harmloseren Varianten gebiert der schlecht verstandene Glaube Militanz.

    Graf präsentiert einige Beispiele: Der Gott der schwarzen Bürgerrechtler, der Lesben und der Schwulen, christlicher, jüdischer oder muslimischer Feministinnen, der Gott der Umweltschützer aber auch der Konservativen und Reaktionäre: All diese Götter mögen einer gerechten Sache dienen. Und sie verleihen den Bewegungen Schlagkraft, bescheren ihren Anhängern Durchsetzungsvermögen - allerdings um den Preis ihrer Sehkraft. Denn Militanz und Selbstzweifel haben noch nie zusammengepasst. Der Fromme verachtet den Unfrommen, und wenn er ganz besonders fromm ist und es ganz besonders schlecht läuft, vernichtet er ihn auch. Natürlich ist auch der umgekehrte Fall denkbar, denn der Unglaube ist ja nicht per se tolerant. Glaube und Unglauben kennen bisweilen beiden den Hang zum Exzess. Zudem aber gebiert der Glaube Gestaltungskraft, schenkt seinen Anhängern jene Zuversicht, die es braucht, um die Zukunft zu gestalten. Allzu oft, darauf weist Graf immer wieder hin, geschieht das aber um den Preis, dass der Gläubige vergisst, dass die Welt bunt ist, nicht nur eine, sondern unendlich viele Ideen, Anschauungen, Überzeugungen, kulturelle Systeme kennt. Das vergisst er auch, wenn er über sich selbst nachdenkt, sich ein Bild seiner selbst macht, das er am liebsten nach der göttlichen Vorlage gestaltet. Denn wenn der Mensch Gottes Ebenbild ist - dann kommen bei den Selbstporträtisten ziemlich schmeichelhafte Werke raus. Werke allerdings von ausgesprochen zweifelhafte Wert.

    "Ja, ich bin dagegen, den Menschen zu verobjektivieren. Also das so genannte Bilderverbot im Alten Testament oder in der Hebräischen Bibel bezieht sich ja auf Gott. Aber wenn der Mensch Gottes vornehmstes Geschöpf oder Gottes Ebenbild ist, dann ist es nur logisch konsequent, auch mit diesem Ebenbild so umzugehen, dass es nicht fataler Weise auf ein bestimmtes Bild seiner selbst festgelegt, verobjektiviert wird. Um der Freiheit des Einzelnen willen bin ich an dem Punkt ein konsequenter Ikonoclast, also ich möchte gerne die Menschenbilder, von denen ich mich umstellt sehe, zerstören, weil diese Bilder immer dazu dienen, uns auf bestimmte Dinge festzulegen, und das tut der Freiheit des Einzelnen überhaupt nicht gut."

    Bilder mögen dem Auge schmeicheln, nicht aber dem Verstand. Im Gegenteil, sie tendieren dazu, diesen außer Kraft zu setzen. Sie sind Blendwerk, zwingen den Menschen in die Knie. Vor allem aber laden sie ein zum Götzendienst: Denn wie soll das möglich sein, dass der Mensch ein Bild seiner selbst als Gottes Ebenbild entwirft? Wenn Menschen Gott nicht fassen, also auch nicht porträtieren können - wie wollen sie, fragt Graf, dann ein Bild ihrer selbst als Ebenbilder dieses Gottes verfertigen? Dieses Bild greift immer um ein paar Dimensionen zu kurz - mindestens. Und wenn umgekehrt Gott Bilder vom Menschen entwirft - dann legt er ihn unwillkürlich auch fest, setzt auf jenen "frozen moment", in dem der Mensch erstarrt, seine Beweglichkeit verliert, selber zum Götzen wird.

    Friedrich Wilhelm Graf hat ein kluges und seiner Eigenschaft als Humorist entsprechend oftmals auch sehr unterhaltsames Buch geschrieben. Er weist vor allem auf die Gefahren des Glaubens hin. Für den werden gerade die nicht-gläubigen Leser immer schon ein geschärften Sinn gehabt haben. Nach der Lektüre werden sie aber auch den Balken im eigenen Auge ein wenig schärfer erkennen. Was aber den Sinn des Glaubens ausmacht - so der Glauben einen Sinn denn hat - das erfährt man in diesem Buch nur in Ansätzen. Er gibt Kraft zur Bewältigung der Zukunft, das ja. Aber dazu braucht es nicht unbedingt einen religiösen Glauben, dazu reichen Zuversicht und Selbstvertrauen. Und welchen Preis eine demokratische Bürgergesellschaft für die Erosion ihrer wichtigsten religiösen Institutionen, der beiden christlichen Konfessionskirchen, zu zahlen haben - auch auf diese Frage, die Graf noch in der Einleitung stellt, hätte man eine deutlichere Antwort erwartet.

    Vermutlich liegt er in einem erhöhten Grad allgemeiner Idiotisierung, vielleicht auch Brutalisierung. Zugleich sieht er, in diesem Buch zumindest, den Glauben allzu sehr durch die intellektualistische Brille. Glauben verleiht Menschen auch im positiven Sinne Durchhalte- und Gestaltungskraft. Die Inhalte des jeweiligen Glaubens mögen intellektuell nicht unbedingt anregend, sondern eher langweilig und vorausschaubar sein. Aber sie befähigen den Gläubigen, sein Leben zu gestalten, tragen so potentiell auch zur Befriedung und zur Erhaltung ganzer Gesellschaften bei. Was in Sachen Zukunftsfähigkeit also geschieht, wenn Wort und Geist nicht mehr von der Kanzel wehen, und ob sich Glauben durch Intellekt ersetzen ließ - diese Fragen wären, zumal aus dem Mund eines so berufenen Skeptikers wie Friedrich Wilhelm Graf, mindestens einen Aufsatz, wenn nicht ein weiteres Buch wert.

    Friedrich Wilhelm Graf: Missbrauchte Götter. Zum Menschenbilderstreit in der Moderne. Beck Verlag, 208 Seiten, 18,90 Euro.