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Brandon Taylor: „Vor dem Sprung“
Gefangen in der eigenen Haut

Im Rahmen seines im letzten Jahr auf Deutsch erschienenen Romandebüts „Real Life“ hat sich der US-Autor Brandon Taylor als bestechender Menschenbeobachter erwiesen. Nun ist seine Storysammlung „Vor dem Sprung“ erschienen.

Von Peter Henning |
Brandon Taylor: „Vor dem Sprung"
Brandon Taylor: „Vor dem Sprung" (Foto: © Bill Adams / Piper Verlag, Buchcover: Piper Verlag)
Es sind Geschichten über Menschen in emotionalen oder geistigen Zwischenzuständen, die der 1989 in Alabama geborene amerikanische Schriftsteller Brandon Taylor in seinem ersten Story-Band versammelt. Er nimmt Schwellenwesen ins Visier, die getrieben sind von dem Wunsch, auszubrechen aus ihrer als überkommen oder sinnlos empfundenen Lebenssituation. Geschöpfe wie die Babysittern Sylvia in der Geschichte „Kleines Biest“, die stellvertretend an jenem ätzenden Gefühlsgemisch laboriert, das sämtliche der im Buch versammelten Charaktere lähmt oder triggert, wenn es über sie heißt:
 „Sie weiß, wie es ist, in etwas gefangen zu sein, in einem Leben. Sie weiß, wie es ist, wenn man ein Loch in all die Dinge reißen will, die einen umgeben. Aber da ist noch etwas anderes.“

Es fehlt das emotionale Zentrum

Sylvia übernimmt all das, wozu die Eltern der Kinder sich nicht imstande fühlen. Und eigentlich ist sie gut in dem, was sie tut. Glücklich aber macht es sie trotzdem nicht. Denn seit sie sich von ihrem Freund getrennt hat, fehlt ihrem Leben das emotionale Zentrum. Also sucht sie verstärkt Sinn in ihrer Arbeit. Ihre Wut darüber aber, bloß noch eine Frau zu sein, die für unartige Kinder Kartoffelscheiben in Knoblauchbutter zubereitet, und deren Geschrei erträgt, mildert das nicht. Im Gegenteil:
„Es ist als würde man einem schlammigen Fluss stromaufwärts zur klar sprudelnden Quelle folgen. Oben angekommen bleibt man stehen. Sie verbirgt ihre Wolfszähne, so gut es geht. Verbirgt den Teil in ihr, der sich das Mädchen schnappen und in Stücke reißen will.“

Versagen der Kommunikation

Eindrucksvoll versteht es Taylor, die Konflikte seiner an ihren Leben wie an unlösbaren Rechenaufgaben herumlaborierenden Figuren anschaulich werden zu lassen. Dabei ergibt sich die Spannung, die seine Geschichten ausmacht, regelmäßig aus dem, was nur angedeutet wird oder ungesagt bleibt. Darüber wird das Versagen der Kommunikation, das Scheitern der Freundschaft, der Ehe und der Liebe unter den zahlreichen scheinbar unverfänglichen Dialogen, in die Taylor seine Figuren verstrickt, langsam sichtbar.
Häufig aber schreckt sie bereits alleine die Vorstellung, das Vertraute aufgeben zu müssen ohne zu wissen, welchen Gegenwert sie dafür erhalten. Und sie sind, wie im Fall des homosexuellen Tänzers Charles in der Story „Fleisch“, den eine erlittene Knieverletzung auf sein scheinbares Karriere-Ende zuzutreiben scheint, bereit, weit zu gehen, um nicht den Sprung ins Ungewisse wagen zu müssen.
 „'Wenn ich noch drei Jahre das hier hätte' sagte Charles und zeigte mit großer Geste auf Lionels Leben: Wohnung, Welt, was auch immer."
“'Du bist grad irgendwie selbstmitleidig', sagte Lionel."
„Ich meine nur, dass du es eigentlich ganz gut hast. Und ich sitze hier mit meinem verfluchten Scheißknie, und bin kurz davor, einem alten Mann den Schwanz zu lutschen, damit er mir ein Vortanzen verschafft. Damit ich vielleicht noch zwei Jahre mit der Sache weitermachen kann, die ich am meisten liebe.“

Die Last der Stille

Auf sämtlichen Geschichten lastet trotz der vielen Worte, die gewechselt werden, eine rätselhafte Stille. Denn die Schreie der Verzweiflung, die Taylors Figuren am liebsten ausstoßen, werden heruntergeschluckt. So wie im Fall von Milton, dem juvenilen Protagonisten der Titelgeschichte „Vor dem Sprung“, den seine Eltern in ein sogenanntes „Horizonterweiterungsprogramm“ schicken wollen, um ihn runter von Alabamas Straßen zu kriegen:
„Das ganze Frühjahr soll er auf einer Farm in Idaho verbringen, um etwas aus sich zu machen. Ohne Telefon, ohne Internet. Sie seien von seiner Entwicklung in den letzten Jahren enttäuscht, sagen sie, und dies sei ihr letzter Versuch, ihre letzte große Anstrengung. Milton hat keine Ahnung, was sie von ihm wollen. Seit heute ist er siebzehn.“
Das gilt es zu feiern, denkt Milton, und trifft sich mit seinen Freunden. Doch der Abend verläuft anders als geplant:  Sein bester Freund Nolan schlägt einen anderen mit einem Stein halbtot. Und als Milton obendrein dahinterkommt, dass Nolan eine Mitschülerin vergewaltig hat, steht er vor der Wahl: Sich abwenden und abspringen! Oder aber weitermachen mit dem, was keine wirkliche Zukunft hat.

Würmerzüchter sucht "alternatives Ich"

Im Rahmen von Taylors im letzten Jahr auf Deutsch erschienenem Debütroman „Real Life“ fasst dessen Protagonist Wallace, der als Doktorand am Bio-Chemischen Institut einer amerikanischen Kleinstadt-Uni zu Forschungszwecken Würmer züchtet und kreuzt, irgendwann den Entschluss, „ein alternatives Ich“ zu entwerfen: Eine nach seinen Vorstellungen gestaltete Version seiner selbst. Ohne Familie und Vergangenheit. Fernab von Einsamkeit, Missbrauch und Alkoholismus.
So gesehen repräsentiert Wallace den Prototyp all jener Charaktere, die Taylors Geschichten bevölkern. Denn ähnlich wie Wallace würden auch sie am liebsten auf der Stelle ihre brüchig oder zu eng gewordene Haut abstreifen - besäßen sie bloß den Mut dazu. Von den zähen inneren Kämpfen, die sie auf einem möglichen Weg dorthin auszufechten haben, erzählen seine furiosen Stories.
Brandon Taylor: „Vor dem Sprung"
Aus dem amerikanischen Englisch von Maria Hummitzsch und Michael Schickenberg
Piper Verlag, München.
288 Seiten, 22 Euro.