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Gefangen in Sibirien - Tagebuch eines ostpreußischen Mädchens. Herausgegeben von Karin Borck und Lothar Kölm

Die Masuren können ein Lied davon singen, was es heißt in einem Grenzland zu leben, wie verheerend sich Chauvinismus auf kleine Völker auswirken kann. Am Ende einer jahrzehntelangen Politik der Polonisierung steht ein Masuren ohne Masuren. Das 20. Jahrhundert war für die Masuren ein Jahrhundert der Drangsalierung und Vertreibung. Bereits im Ersten Weltkrieg mussten zahlreiche Masuren zwangsweise ihre Heimat verlassen. Sie wurden nach Sibirien verschleppt. Davon erzählt das Tagebuch eines ostpreußischen Mädchens, das in den Jahren 1914 bis 1920 entstand und jetzt erstmals veröffentlicht wurde. "Gefangen in Sibirien" - eine Rezension von Ulla Lachauer.

Ulla Lachauer |
    Die Masuren können ein Lied davon singen, was es heißt in einem Grenzland zu leben, wie verheerend sich Chauvinismus auf kleine Völker auswirken kann. Am Ende einer jahrzehntelangen Politik der Polonisierung steht ein Masuren ohne Masuren. Das 20. Jahrhundert war für die Masuren ein Jahrhundert der Drangsalierung und Vertreibung. Bereits im Ersten Weltkrieg mussten zahlreiche Masuren zwangsweise ihre Heimat verlassen. Sie wurden nach Sibirien verschleppt. Davon erzählt das Tagebuch eines ostpreußischen Mädchens, das in den Jahren 1914 bis 1920 entstand und jetzt erstmals veröffentlicht wurde. "Gefangen in Sibirien" - eine Rezension von Ulla Lachauer.

    Über siebzig Jahre lag das Tagebuch von Elisabeth Sczuka vergessen im Schrank, und dass es den Weg in die Öffentlichkeit gefunden hat, ist einer Freundin der Verfasserin zu verdanken, zwei Berliner Historikern und einem mutigen jungen Verleger. Die Geschichte ist wohl einzigartig: Zwei Kinder, Elisabeth und Hildegard, werden zusammen mit ihrem Vater, dem masurischen Dorfschulmeister Johann Sczuka, im Spätsommer 1914 von den Zarenarmeen nach Sibirien verschleppt. Sie gehören zu den etwa 13.600 ostpreußischen Zivilgefangenen, deren Schicksal bis heute fast unerforscht geblieben ist. In dem Viehwaggon sind 40 Personen zusammengepfercht, der Zug fährt ostwärts, an Moskau vorbei, mit unbekanntem Ziel. Elisabeth, die Zehnjährige, findet ein Bleistiftstümpfchen und fängt aus Langeweile an zu schreiben. Sie notiert das Auftauchen der ersten Laus und wie sie zum ersten Mal im Leben ein Kamel erblickt. Später verarbeitet sie die Stichworte zu einem ordentlichen Reisebericht:

    "Der Zug rasselte unaufhaltsam vorwärts, und in unserem Inneren wurde die Frage immer lauter: Wohin? Wohin? Wenn ich nur die Wunderlampe des Aladin hätte, die die Zauberkraft besaß, alle Wünsche ihres Besitzers zu erfüllen, ... ich hätte uns alle in die teure Heimat zurückversetzen lassen."

    Landschaften gleiten vorbei, und Johann Sczuka erzählt den Töchtern, was er aus der Erdkunde weiß, über die fischreiche Wolga, die Tundra, Taiga und den Ural, hinter dem Asien beginnt. Jetzt fahren sie auf der Strecke der soeben fertiggestellten Transsibirischen Eisenbahn weiter. Hinter Omsk wird es Winter, Elisabeth fiebert, erbricht sich tagelang. "Seekrankheit" diagnostiziert eine russische Ärztin. Am 5. Oktober 1914 schließlich erreicht der Zug Krasnojarsk.

    "Wir fuhren durch die Stadt. Die Straßen waren hell erleuchtet und ganz voller Menschen, die die Gefangenen sehen wollten. Da war uns nicht froh zumute. Aber als uns ein Frauchen ins Gesicht leuchtete und sprach: 'Eto ljudi kak i my". Das heißt: 'Das sind ja Menschen wie wir!" mußten wir doch lachen. Unter der großen Menschenmenge befanden sich auch Mitleidige. Ein Herr drängte sich an unseren Wagen heran. Er gab uns einen Apfel, damit wir ihn unter uns teilen."

    Ein Apfel in Sibirien! Elektrischer Strom, den sie aus ihrem ostpreußischen Dorf noch nicht kennen! Am fremden Nachthimmel entdecken sie unerwartet das Sternbild des Großen Wagen. Die Kaserne am Jenissej, wo die Familie zwei Zimmerchen zugewiesen bekommt, ist ein moderner Bau! Die Kinder kommen aus dem Staunen nicht heraus, und der Leser auch nicht. Es ist das Schönste an der Lektüre, teilhaben zu können an ihrer nicht endenden Verwunderung.

    "Nach einer zwanzigtägigen Einpferchung im Eisenbahnwagen kam endlich eine ruhige Nacht in einem leidlichen Zimmer mit schöner frischer Luft, und so schliefen wir trotz des Hungers sehr gut."

    Harte, gefährliche Zeiten folgen. Gleich zu Anfang zimmert Johann Sczuka aus Kisten ein Pult zusammen, Elisabeth und Hildegard sollen jeden Tag aufschreiben, was geschieht.

    "Unser täglicher Speisezettel war: Morgens heißes Teewasser und grobes Brot. Mittags heißes Wasser und abends Fleischsuppe und Kascha. Es war in der ersten Zeit mehr als reichlich, doch waren die meisten mit dieser täglichen Ernährung unzufrieden. Es sehnte sich alles nach Abwechslung. ... Die Kascha... enthielt einen Unkrautsamen, der einen widerlichen Beigeschmack hatte. Man hungerte lieber, als daß man sie aß. So wanderte sie auf den Kehrichthaufen. Ein Wunder deshalb, daß sich hier Borstenvieh und Hunde ihr Stelldichein gaben."

    Elisabeth beobachtet sehr genau: das Wetter, den Tagesablauf vom morgendlichen Tee bis zur abendlichen Wanzenjagd, die Vorkommnisse in der multinationalen Männerwelt des Lagers. Zum Beispiel wird der Vater in seinem Mittagsschläfchen gestört, weil ein paar Offiziere lautstark den Fall von Warschau bejubeln. Beim Essenholen kommt ihr zu Ohren, daß einige Gefangene, als Bärenjäger verkleidet, zur chinesischen Grenze geflohen sind. Sie registriert die vom Tabakqualm verpestete Luft in den Mannschaftsbaracken, Gerüchte von einem Diebstahl in der Türkenkaserne, 45 Grad minus auf dem Thermometer. Während der großen Typhuswelle im Winter führt sie Statistik über die Zahl der Toten.

    "Langsam ließ die strenge Winterkälte nach. Die Sonne stieg immer höher am Himmelszelt empor. Allmählich schmolz der Schnee, und es wurde etwas schmutzig. Nach und nach trocknete die Erde. Es war eine besondere Freude, spazieren zu gehen... Bald hörten wir die ersten Lerchen, und die Schwalben wurden sichtbar."

    Binnen 24 Stunden ist der Frühling da, die Steppe füllt sich mit Küchenschellen. Die Kinder gehen am Steilufer des Jenissej botanisieren, wieder Gelegenheit für den Vater, sie zu unterrichten. Die lästigen Stechmücken werden erträglicher, wenn man ihre Gewohnheiten analysiert, die Windhose am Horizont, verliert, physikalisch erklärt, ein wenig von ihrem Schrecken. Auf Initiative von Johann Sczuka entsteht für die etwa hundert Kinder im Lager eine Schule. Vom Hirth Verlag in Breslau bestellt er Lehrbücher, sie kommen - auf dem normalen Postwege - an.

    "Jeden Morgen haben wir um 7 1/4 Uhr französische Stunde. Unser Lehrer ist Herr Holz. Er ist gut zu uns und schimpft wenig auf uns. ... An Sonntagen machen wir einen Spaziergang. Dabei unterhalten wir uns auf französisch."

    Es kommt Post von zuhause, der Vater bezieht über eine schwedische Bank Teile seines Lehrergehalts weiter, hält Elisabeth fest. So gut sie es vermag, gibt sie die im Lager kursierenden Nachrichten von den Kriegsschauplätzen wieder. Manches, was aus dem Westen zu hören ist, klingt schier unglaublich.

    "In diesem Kriege werden besonders viele Mittel erfunden. So wird auch Gas zum Schießen benutzt. ... Diese Gase verteilen sich ... auf die Schützengräben, daß niemand länger darin bleiben kann. Dann kriechen sie alle heraus. So werden viele totgeschlagen oder gefangengenommen."

    Aus dem fernen Sibirien, von dem Gefangenenlager aus, in dem offenbar die Regeln über den humanen Kriegsgewahrsam eingehalten werden, erscheint der moderne Krieg an der Westfront unwirklich. Als die Zivilisten 1916 aus der Kaserne geworfen und in ein russisches Dorf einquartiert werden, entfernen sie sich noch weiter. Für zwei Jahre leben sie wie Verbannte im urtümlich ländlichen Russland. Rasch freunden sich die Sczuka-Mädchen mit russischen Altersgenossen an. Die Tagebücher verwandeln sich in Aufsatzhefte, wie kleine Ethnografinnen halten sie die Sitten und Gebräuche des Dorfes fest.

    "Der Sibirier hat viele Feste. Eins der größten ist das Fest der Wasserweihe. Es fällt auf den 25. Januar. ... Kaum graute der Morgen, so ritten kleine Knaben im Dorfe umher. Die Mähnen ihrer kleinen struppigen Pferde waren mit Rosen geziert, ihre Schweife vielfach geflochten. Gegen 10 Uhr luden die Kirchenglocken zum Gottesdienst ein. Danach begaben sich Pfarrer und Kirchenbesucher in feierlichem Zuge zur Wasserweihe nach dem Fluß."

    Orthodoxe Ostern, Pfingsten, eine Hochzeit, Kinderspiele - sehr vergnüglich zu lesende Momentaufnahmen vor der Oktoberrevolution. Ihnen folgen einige kurze düstere Kapitel. Im Sommer 1918 gerät die Familie auf der Heimreise zwischen die Fronten des Bürgerkrieges. Ein Alptraum, in dem auch das Schreiben zeitweise versiegt. Zwei Jahre dauert es, bis zum Herbst 1920, dann sind die Sczukas wieder Zuhause, in Masuren. Das Tagebuch von Elisabeth ergänzen Erinnerungen ihres Vaters. Karin Borck und Lothar Kölm haben die Texte gut kommentiert und in den historischen Zusammenhang gebettet. Ein wunderbares Dokument: Sibirien mit Kinderaugen gesehen, unbekannte Aspekte des 1. Weltkriegs und nicht zuletzt Zeugnis einer geglückten Erziehung.