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Gefangener des Staates

Liu Xiaobo ist seit der Niederschlagung der Studentenproteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens ein Stachel im Fleisch der chinesischen Regierung. Im vergangenen Jahr wurde Liu Xiaobo zu elf Jahren Haft verurteilt - in diesem wurde ihm der Friedensnobelpreis zuerkannt. Nun liegt die erste Biografie von Xiaobo vor.

Von Sabine Pamperrien | 13.12.2010
    Dieses Buch wurde in Rekordzeit verfasst. Das Resultat ist ein dichtes, nachdenkliches und anrührendes Porträt des chinesischen Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo. Der in den USA lebende Autor Bei Ling war einer der chinesischen Intellektuellen, deren Erscheinen bei der Frankfurter Buchmesse 2009 das Gastland China zu verhindern versuchte. Bei ist seit Anfang der 80er-Jahre mit Liu befreundet. Liu wohnte zeitweise bei ihm. Man arbeitete nicht nur intensiv an oppositionellen Publikationen oder der Gründung des Unabhängigen chinesischen PEN, sondern genoss auch ganz einfach das Leben. Die Befürchtung, da nutze jemand den frischen Ruhm zur eigennützigen Verklärung des Preisträgers, ist unbegründet. Der Leser lernt einen sinnlichen, zuweilen übermütigen Mann kennen, der mit einem messerscharfen Verstand, gesundem Egoismus, einem Höchstmaß an Empathie und Toleranz und einer ganz ungewöhnlichen Fähigkeit zur kritischen Selbstanalyse ausgestattet ist.

    Der heutige Liu Xiaobo ist von seinem intellektuellen Wissen geformt, aber auch aus seiner Wildheit und seinem Ehrgeiz. Er ist ein komplizierter Mensch mit heftigen inneren Konflikten zwischen hehrer Sehnsucht und weltlichem Verlangen.
    Liu hat in zahlreichen Schriften immer wieder seinen eigenen Werdegang reflektiert. Bei Ling ergänzt klug zusammengestellte Zitate aus diesen Schriften und Texten über Liu durch kenntnisreiche Kommentare und manche Anekdote. Fern der großen politischen Ziele um die Verfasser der Charta 08 beeindrucken dabei beispielsweise die freundschaftlichen Bande zwischen Exilchinesen und chinesischen Oppositionellen, deren leidenschaftliches Mit- und Gegeneinander an die Wirkmacht der Bloomsbury Group erinnert. Schlagartig berühmt wurde der Literaturwissenschaftler Liu Xiaobo 1986, als er sich mit den chinesischen Koryphäen seines Fachs anlegte. Seine heftige Kritik an der literarischen Entwicklung in den zehn Jahren seit dem Ende der Kulturrevolution provozierte landesweite Diskussionen über kulturelle Werte. Rasch wurde Liu zum Idol der Studenten. Seine Vorlesungen seien überfüllt gewesen, vermerkt der Biograf.

    Liu Xiaobo schreckte mit seinen kritischen Theorien die etablierte Literaturwissenschaft auf und mischte mit seinem gründlichen Rüstzeug an klassischer westlicher Philosophie die Gelehrtenwelt auf, die sich nach der Kulturrevolution gerade erst wieder formte. Bald sprach man vom "Liu-Xiaobo-Schock" oder vom "Liu-Xiaobo-Phänomen". An den Bücherständen der Hauptstadt war Lius Buch so gefragt, dass man es nur für ein Vielfaches des ursprünglichen Preises bekam.
    Der 1955 geborene Sohn eines Hochschullehrers, der an einer Heeresschule unterrichtete, wächst mitten in der Kulturrevolution in dem selbstverständlichen System von Maßregelung und gleichmacherischer Zurichtung auf. Gesellschaftlicher Status ist in dieser Welt jedoch keinesfalls unbekannt. Die feudale Hierarchie der Kommunisten wird später der Ausgangspunkt für Lius grundsätzliche Kritik am aktuellen Wertesystem in China.

    An der Marke der Zigaretten, die ein Mitschüler rauchte, konnte man die Stellung der Eltern ablesen. Wer "Preiswert" rauchte, wurde gemieden. Schon damals war die chinesische Gesellschaft in Schichten gegliedert, die man an der Aufschrift auf den Zigarettenschachteln leicht erkennen konnte. Das prägte die Kinder, die daraus ihre Wertmaßstäbe ableiteten.
    Liu Xiaobo ist ein hochfahrendes Kind, das einen alten Mann quält, der von der Kulturrevolution als Konterrevolutionär zum Freiwild degradiert wurde. Er hat keinerlei Hemmungen, vermeintliche Klassenfeinde zu schikanieren. Dass er sich selbst mehrfach wegen Rauchens, Prügeleien und Schulschwänzen vor Tribunalen verantworten musste und die entwürdigende Prozedur von rituellem Geständnis und ritueller Selbstkritik durchmachte, reflektierte er erst als Erwachsener. Die Schuldgefühle für seinen Mangel an Menschlichkeit gegenüber dem alten Mann lassen ihn nie mehr los. Sein Biograf schreibt:

    Die Kulturrevolution fand in einer entscheidenden Periode während Xiaobos Jugendjahren statt und hat ihn für sein ganzes Leben wesentlich geprägt. Die traditionelle chinesische Erziehung zu Unterwerfung und Gehorsam wurde für diese Generation in das Gegenteil verkehrt. Die Rotgardisten sollten aufbegehren und sogar Revolution machen und diese hatte auch noch aus dem Herzen kommen müssen. Diese Umwandlung der alten Werte hatte einen subtilen Einfluss auf Xiaobos Entwicklung zu einem Andersdenkenden.
    Es sind auch solche Hinweise, die diese Biografie so lesenswert machen. Das Schlüsselerlebnis bleibt das blutige Ende der Demokratiebewegung von 1989. In Beis Buch nimmt Lius Beteiligung daran breiten Raum ein. Fast minutiös werden die Ereignisse vom Juni 1989 rekonstruiert. Nach seiner Verurteilung als Drahtzieher der Demonstrationen wurde das Werk des Literaturwissenschaftlers aus den Annalen der offiziellen chinesischen Kultur getilgt. Liu Xiaobo lebte seither im ständigen Zugriff der Sicherheitspolizei. Er publizierte illegal weiter. Seine dezidierte Kritik unter anderem an der Demokratiefähigkeit Chinas ist eine intellektuelle Herausforderung nicht nur für Chinesen.

    Liu Xiaobo ist ein Gefangener des Staates. Indem ihn die Welt kennenlernt und seine Karriere als Andersdenkender begreift, seine Leiden und seine geistige Entwicklung erkennt, wird sie auch das heutige China begreifen.

    Sabine Pamperrien über Bei Ling: "Der Freiheit geopfert". Die Biografie des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo. Das Buch erscheint heute im Riva-Verlag, es umfasst 208 Seiten und kostet 19 Euro und 95 Cent, ISBN 978-3-868-83134-4.