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Gefeiert, vergessen, wiederentdeckt

"Die tote Stadt" von Wolfgang Korngold war eine der erfolgreichsten Opern der 20er-Jahre. Nur kurze Zeit später kam es auch an der New Yorker Met zum ersten Mal auf die Bühne - als eine der ersten deutschen Opern nach dem Ersten Weltkrieg.

Von Sabine Fringes | 04.12.2010
    "Jetzt war es Abend. Ein feiner, kalter Regen fiel, ein Strichregen der immer schneller floss und ihm mit Nadeln in die Seele stach. Hugo fühlte sich wieder besiegt, von ihrem Gesicht verfolgt, nach Janes Wohnung getrieben. Er ging abermals hin; als er in die Nähe kam, kehrte er wieder um. Ein plötzliches Bedürfnis nach Einsamkeit bemächtigte sich seiner; er fürchtete jetzt, sie möchte zu Hause sein und ihn erwarten und er mochte sie nicht sehen."

    In Georges Rodenbachs symbolistischem Roman "Bruges-La-Morte", "Das tote Brügge" geht es um einen jungen Mann, der den frühen Tod seiner Frau nicht verwinden kann. Das Buch war Ende des 19. Jahrhunderts ein Bestseller und hatte bald auch als Bühnenstück Erfolg.

    1916 entdeckte der damals 19-jährige, schon früh als "Wunderknabe" gehandelte Komponist Erich Wolfgang Korngold darin einen passenden Stoff für seine erste große Oper: "Die tote Stadt". Gemeinsam mit seinem Vater Julius Korngold schrieb er unter einem Pseudonym das Libretto. Paul heißt nun der Witwer, der sich nach Brügge zurückzieht, um dort, in den alten Gassen und Gemäuern ganz seinen Erinnerungen leben zu können.
    Bis ihm eines Tages Marietta begegnet. Die Tänzerin gleicht seiner verstorbenen Frau aufs Haar. Von Paul in sein Haus eingeladen, verzaubert sie ihn mit einem Lied, zu dem sie sich selbst auf der Laute begleitet.

    "Die eigentümliche Brügge-Stimmung, der schwermütige Grundton, die beiden Hauptgestalten mit ihren fesselnden seelischen Konflikten, der Kampf der erotischen Macht der lebenden Frau gegen die nachwirkende seelische Macht der Toten, die tiefere Grundidee des Kampfes zwischen Leben und Tod überhaupt, (...) dabei überall eine Fülle musikalischer Gestaltungsmöglichkeiten – all das zog mich an."

    Diese "Fülle" schöpft Korngold voll und ganz aus: Chöre, Ensembles, Tänze und Prozessionen bringen den Theaterapparat in Schwung. Aus mehr als 120 Musikern besteht das Orchester, das in seiner Größe an die "Symphonie der Tausend" von Gustav Mahler erinnert. Aus vielen Einflüssen speist sich "Die tote Stadt": Puccini und Strauss klingen in den Orchesterfarben an. Eine Mischung aus "verdischem Cantabile und wagnerscher Deklamation" fordert Korngold von seinen Sängern.
    Und an entscheidender Stelle zitiert er aus einer anderen Oper: Die "Nonnenerweckung" aus Giacomo Meyerbeers "Robert le Diable" ist eine Schlüsselszene der musikalischen "schwarzen Romantik": Mit ihr beginnt Pauls Traum, an dessen Ende er Marietta umbringen wird.

    Am 4. Dezember 1920 wird "Die tote Stadt" in einer Aufsehen erregenden Doppelpremiere uraufgeführt. In Köln dirigiert Otto Klemperer, in Hamburg Egon Pollack. Die Oper wird ein sensationeller Erfolg, und in den kommenden Jahren an über 30 großen Häusern im In- und Ausland aufgeführt.

    Doch schon Ende der 20er-Jahre treibt die Neue Sachlichkeit das Werk von der Bühne, in den 30ern verbieten die Nazis den jüdischen Komponisten und nach dem Krieg gilt die Oper des mittlerweile in Hollywood für den Film schreibenden Korngold lange Zeit als antiquiert und "unseriös". Mehrere Jahrzehnte lang versinkt "Die tote Stadt" in Vergessenheit, bis sie in den 80ern und 90ern dank fantasievoller Regisseure eine Renaissance erlebt. Götz Friedrich etwa deutet die Geschichte um die Wiederkehr einer Toten tiefenpsychologisch, Willy Decker liest sie als Psychogramm der Bedrohung und Günther Krämer als Paraphrase auf Hitchcocks "Vertigo".