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"Gefühle des Unmuts, der Rebellion, der Frustration"

Shantel haucht traditionellen Klängen ein neues, tanzflächentaugliches Leben ein. Mit seinem neuen Album ist die Party allerdings vorbei: Statt Aufbruchsstimmung spürt Shantel das Bedürfnis nach Rebellion.

Mit Luigi Lauer | 19.10.2013
    Luigi Lauer: Shantel, hallo! Gehen wir doch einfach gleich mitten rein: Mit "Anarchy and Romance" gehen Sie musikalisch offenbar ganz neue Pfade. Fragt sich: warum? Es lief doch hervorragend.

    Shantel: Ich bin mir sehr sicher gewesen, von Anfang an, dass ich nicht mehr diese Geschichte, die ich mit Disco Partizani erzählen wollte, die möchte ich nicht mehr wiederholen. Das Projekt Bucovina Club, Disco Partizani, ich habe zehn Jahre lang wirklich alles gegeben. Ich habe nichts ausgelassen, keine Party, kein Festival, keinen Exzess. Jede Option habe ich wahrgenommen und möchte auch keinen Tag vermissen. Aber mir war wirklich klar, in dem Moment, wo ich auf dieser Erfolgswelle und auf diesem Peak war – alles andere muss komplett anders sein. Weil sich auch die Zeiten geändert haben, auch für mich persönlich, wie ich mich ausdrücke, und sozusagen dafür eine geeignete Formel zu finden, das war schon ein steiniger Weg. Jetzt war es für mich eigentlich so, dass ich das alles komplett neu zusammensetzen muss.

    Lauer: Bucovina Club war Tradition mit modernen Elementen, Disco Partizani einen Schritt weiter zur Elektronisierung, zum Dancefloor. Kommt das nicht mehr so an oder was hat sich verändert?

    Shantel: Für mich hat sich einfach verändert, wie drücke ich mich am Besten aus. Und ich hatte nicht mehr dieses Gefühl von der hedonistischen, allumfassenden Party, die irgendwie drei Tage und drei Nächte ... ich finde, da hat sich einfach etwas verändert, von der Haltung her, in diesem Arbeitsprozess der letzten zehn Jahre."

    Lauer: Was war denn damals so anders als heute?

    Shantel: Wenn ich jetzt mal von der Zeit spreche, wie das so los ging mit Disco Partizani, das war eine Situation: Die Mauer war gefallen, Osteuropa war offen, es sind neue politische Gebilde entstanden. Es war nicht dieser Post-Sowjet-Style, sondern es hat sich auch etwas Neues definiert. Und das war eine sehr elektrisierende Aufbruchstimmung. Gerade auch in so Städten wie Berlin oder auch in Wien. Also Wien wurde ja so zum Sammelbecken von vielen guten Musikern aus Osteuropa, die also quasi ihre Heimat verlassen haben und Wien zu ihrer neuen Hauptstadt erkoren haben. Also eine Aufbruchstimmung, ganz spannend, ganz viril.

    Lauer: Moment, ich höre trotzdem da so ein "Aber" bei ihnen heraus. Ist das jetzt nicht mehr "spannend und viril"? Warum "aber"?
    Shantel: Und dann aber hat sich das insofern auch nivelliert, dass jetzt auf einmal Osteuropa so ein Symbol geworden ist für Nationalismus, für chauvinistische Tendenzen. Also Ungarn wird jetzt regiert von Antisemiten, in Rumänien ist es ähnlich, in Bulgarien haben wir eine sehr korrupte kleinkriminelle oder kriminell agierende Regierung. Also, ich möchte es gar nicht so darstellen wie derjenige aus dem Westen, der so ein pauschales Bild abgibt. Sondern ich bin zehn Jahre lang von der Kleinstadt in der Walachei bis zur Metropole Belgrad, Istanbul und sonst wohin, mehrmals im Monat, im Jahr, aufgetreten, Menschen getroffen, bin länger dort geblieben, habe irgendwelche Programme gemacht, auch an der Universität oder Stipendien. Habe also intensiv versucht, auch der Sache gerecht zu werden. Ich habe dann im Laufe der Jahre auch gespürt, wie sich Dinge sehr brachial verändert haben. Und wie auf einmal auch meine Empfindung, wie man diese ganze Sache ausdrückt, künstlerisch, sich verändert hat.

    Lauer: In welche Richtung?

    Shantel: Ich entdecke viel stärker Gefühle des Unmuts, der Rebellion, der Frustration, Ohnmacht gegenüber den Verhältnissen oder der Veränderung, wie sie sich vollzogen hat, gerade im Osten. Man wird ja auch zu so einer Art Spokesman. Ich wollte das nie, aber man wird einfach vereinnahmt, das sind einfach die Automatismen, die da zum Tragen kommen.

    Lauer: Gut, dann bin ich jetzt mal einer derjenigen, die Sie vereinnahmen. Sie sagen, die Verhältnisse hätten sich gewandelt. Können sie das konkreter festmachen?

    Shantel: Es fing im Prinzip damit an, wenn man das mal jetzt am Beispiel Ungarn manifestiert, dass die guten, versierten Journalisten, die kritischen Journalisten, mit denen ich vor 5, 6, 7 Jahren interessante, spannende Interviews geführt habe, für Fernsehsender, für Radiostationen, Tageszeitungen, auch für Fanzines, also die quasi die Szene in Budapest und darüber hinaus, die sich, sagen wir mal, auch weltpolitisch und generell engagiert haben; diese ganzen Leute sind alle nicht mehr im Job. Die wurden entlassen, weil sie halt nicht mehr auf Linie sind, auf Regierungslinie. Oder sie haben tatsächlich auch das Land verlassen. Es gibt ja mittlerweile in Berlin auch so eine kleine Community von ungarischen Künstlern und Journalisten, die halt im Land nicht mehr arbeiten können richtig. Ähnliches habe ich in der Ukraine auch erlebt, dass quasi Menschen, die man kennengelernt hat, die man als Gleichgesinnte bezeichnen würde, dass die einfach weg vom Fenster sind. Und dass jetzt auch ein ganz anderer Umgang herrscht.

    Lauer: Haben sie auch persönlich erleben müssen, dass man sie zum Beispiel in ihrer Reisefreiheit einschränkt oder dass sie nicht mehr sagen können, was ihnen nicht in den Kram passt?

    Shantel: Was mich sehr erschreckt hat: Letztes Jahr, wir haben auf den Sziget-Festival gespielt, eigentlich eines der größten Rock/Pop-Festivals in Ungarn. Ich habe ein Interview gemacht mit Funkhaus Europa, die haben live on air gesendet vom Festival. Und bevor das Interview losging, wurde mir dann zu verstehen gegeben durch die Redakteure vor Ort, sie mussten einen Vertrag unterschreiben vor Ort, der ihnen quasi verbietet, verbal irgendeine öffentliche Kritik gegenüber Viktor Orban zu äußern. Und das haben die auch unterschrieben, sonst hätten sie diese Lizenz nicht bekommen. Glücklicherweise haben wir uns über Musik unterhalten und nicht über Politik. Aber ich habe dann während dem Konzert ein kleines spitzes Statement losgelassen und habe auch prompt danach Morddrohungen bekommen. Das hat mich schon nachdenklich gestimmt. Ähnliche Erfahrungen habe ich jetzt auch in der Türkei, ich spiele auch nach wie vor sehr viel dort, und auch dort habe ich sehr brachiale Veränderungen gespürt.

    Lauer: Inwieweit hat sich das auf ihrem neuen Album "Anarchy and Romance" niedergeschlagen? Zumindest "Anarchy" legt ja die Vermutung nahe, dass sie – ich sage mal: ihren Eindrücken auch Ausdruck verleihen wollten.

    Shantel: Ich empfinde viel stärker bestimmte rebellische Momente oder eine rebellische Motivation, ohne jetzt den Fehler zu begehen, in irgendein politisches Fahrwasser zu geraten. Ich finde, man ist Musiker und entscheidet sich auch bewusst dafür, und man ist kein Politiker. Und beides zusammen ist keine gute Allianz, meiner Meinung nach. Ich finde das immer ganz haarsträubend, wenn also Musiker anfangen, so in politische Agitation sich zu entwickeln. Deswegen ist "Anarchy and Romance" als Album konzeptionell oder inhaltlich vielleicht ernster oder nachdenklicher, rauer, kantiger oder, ja, krachender geworden im Vergleich zu dem, was ich vorher gemacht habe. Weil es genau auch die Sprache oder die Stimme oder der Ausdruck ist, so wie ich das empfinde im Moment.

    Lauer: Der Wechsel von der fröhlichen Tanzmusik zu dem, was sie uns gerade beschrieben haben, dürfte ja durchaus mit der Erwartungshaltung zumindest eines Teils ihrer Fans kollidieren. Ist das Publikum die Prüfungsinstanz für den "neuen" Shantel?

    Shantel: Es gibt keine Wahrheit, die so brachial und ehrlich und direkt ist wie das Publikum, das auf deine Konzerte geht. Wenn die die Kröte nicht fressen wollen, dann hast du einfach verloren.