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Gefühle und ihre Inszenierungen

Gefühle galten lange als irrational und für Geisteswissenschaftler nur schwer fassbar. Das hat sich in den letzten Jahren geändert. Der in London lehrende Historiker Jan Plamper erklärt die junge Disziplin der Emotionsgeschichte, die Empfindungen als soziale Konstrukte betrachtet.

Von Ingo Petz |
    Angst muss nicht gleich Angst sein. In anderen Kulturen existiert sie mitunter nicht einmal. Zumindest nicht so, wie wir sie kennen. Der Historiker Jan Plamper zeigt dies am Beispiel der Maori-Krieger in Neuseeland:

    "Bis zu ihrer Unterwerfung durch die Briten Mitte des 19. Jahrhunderts führten verschiedene Stämme der Maori, Ureinwohner des heutigen Neuseelands, gegeneinander Krieg. Zeigte ein Maori-Krieger vor der Schlacht körperliche Anzeichen von Furcht wie etwa Zittern, so hieß es, er sein von atúa, einer Art Geist, besessen, der durch die Verletzung von tápu, einem Kanon sozialer Regeln, verärgert worden sei. Die Furchtgenese findet nicht in seiner 'Seele', seiner 'Psyche' oder 'seinem Gehirn' statt, sondern in einer transzendenten Sphäre von tápu-Normen und höheren Wesen."

    Angst - für Jan Plamper ist sie immer wieder Thema. In einem früheren Buch hat der in London lehrende Wissenschaftler bereits die Angst deutscher, russischer und französischer Soldaten im Ersten Weltkrieg verglichen. In seinem aktuellen Buch "Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte" erklärt Plamper nun, warum Gefühle eine Geschichte haben. Das Buch ist keine grundlegende Geschichte menschlicher Empfindungen. Es ist eine Einleitung, die erklärt, was Emotionsgeschichte sein will, wie man sie schreiben kann, wie man ihr in Gedichten, Fotos oder antiken Skulpturen auf die Schliche kommt. Denn über all das besteht alles andere als Klarheit. Plamper verweist in seinem Buch auf den französischen Historiker Lucien Febvre, der sich seit den 1920er-Jahren als einer der ersten mit der Emotion in der Geschichte beschäftigt hat. Plamper schreibt:

    "Febvre fragte: 'Wenn der Historiker uns sagt: Napoleon hatte einen Wutanfall, oder aber: Er erlebte einen großen Moment der Freude – ist damit seine Aufgabe nicht beendet? Das ist sie natürlich nicht, denn damit ist noch lange nicht gesagt, was Wut in Napoleons Zeiten bedeutete und wie ein öffentlicher Wutausbruch aussah.' Im Einzelnen forderte Febvre die Analyse von schriftlichen und bildlichen Gefühlsdarstellungen im zeitlichen Längsschnitt. Bei alledem stand für Febvre viel auf dem Spiel: 'Wir haben keine Geschichte der Liebe, keine Geschichte des Todes.' Dies sei fatal, 'denn solange sie uns fehlen, wird es Geschichte im empathischen Sinn nicht geben.'"

    Febvre gehörte zur Schule der Annales, die ab den 1920er-Jahren für einen frischen Wind in der Historiographie sorgte. Die Franzosen schrieben über den Alltag, den Rhein, den Tod. Febvre war dabei der erste Historiker, der in einer Forschungsarbeit eine Emotionsgeschichte umriss. Er entdeckte die Emotionen für die Historiographie, weil ihn die politischen Umwälzungen seiner Zeit beunruhigten. Dazu schreibt Plamper:

    "Sorgenvoll fragte Febvre: 'Werden sie die Welt von morgen in ein stinkendes Leichenhaus verwandeln?' Die Bedrohung durch den europäischen Faschismus und das emotionale Verführungspotenzial des Nationalsozialismus waren also ein Auslöser für Febvres Ansatz. So gesehen standen am Anfang der Emotionsgeschichte nicht ein, sondern mindestens drei Männer: Lucien Febvre, Benito Mussolini und Adolf Hitler."

    Die Zeit des europäischen Totalitarismus zeigte, wie politische Systeme Emotionen instrumentalisieren können. Dies führte auch Historikern vor Augen, wie wichtig es ist, sich mit Gefühlen und ihrer Inszenierung zu beschäftigen. Plamper rollt die Entwicklung des Forschungsfachs und ihrer Protagonisten auf. Er erörtert, wie sehr die Emotionsgeschichte auch Soziologie ist - und wie komplex und interdisziplinär das Fach deshalb angelegt ist. Plamper führt den Leser daher durch zahlreiche Theorien, die davon ausgehen, dass Gefühle und Empfindungen vor allem soziale Konstrukte sind. Die israelische Soziologin Eva Illouz beispielsweise beschäftigte sich in einer ihrer Arbeiten mit der Wandelbarkeit der Liebe im 20. Jahrhundert. Plamper fasst dies so zusammen:

    "Diese Negativdarstellung der Ehe in Werbeanzeigen war bezeichnend für eine allgemeine Verschiebung der Wahrnehmung. Denn seit Ende der Zwischenkriegszeit wurde der Bund fürs Leben zunehmend als Arbeit aufgefasst, was wiederum die utopische Phantasie beflügelte: Liebe mutierte im Imaginären zu Nicht-Arbeit, zu Freizeit, zu Urlaub und die ultimative Liebe war das utopische Phantasiekonstrukt des nicht enden wollenden Urlaubs. Mit dieser Konzeption von Liebe leben wir noch heute."

    Dass Emotionen das Resultat von sozialen Strukturen sein können, ist nur eine Sicht der Dinge. Schließlich sind Gefühle auch Ausdruck von biochemischen und psychologischen Vorgängen. Damit beschäftigt sich der Historiker im zweiten großen Teil des Buches. Die Exkurse in die Neurologie oder kognitive Psychologie sind allerdings akademisch überladen und schwer verdaulich. Ob es der Emotionsgeschichte gelingen wird, diese soziologisch-naturwissenschaftliche Spannung zu überwinden, lässt Plamper offen. Interessant wird es wieder, wenn der Autor untersucht, was sein Geschichtsansatz für andere Fächer wie zum Beispiel die Politikwissenschaft leisten kann. Wenn man etwa untersucht, warum und wie Politiker sehr persönliche Emotionen seit jeher als Stilmittel nutzen, um die eigene Stellung zu festigen. Wie etwa in der jüngsten Vergangenheit der damalige US-Präsident George W. Bush.

    "… einem Präsidenten, der immer wieder vor laufender Kamera weinte, so etwa bei einer Zeremonie am 11. Januar 2007, bei der er posthum einen 22-jährigen Soldaten ehrte, der 2005 bei dem Versuch, seinen Kameraden zu retten, getötet worden war. Welches sind die Grenzen öffentlicher Zeigbarkeit von Emotion, wie ändern sich die Grenzen und warum?"

    Plampers Buch ist ein intellektueller Kraftakt, der immer dort am besten ist, wo der Autor Konzepte anhand von Beispielen aus der Geschichte erläutert. Allerdings neigt er dazu, mit einem Hang zum Zweifeln mehr Verwirrung zu stiften als Klarheit. Die Mühe der Lektüre lohnt dennoch. Denn das Buch zeigt, wie wandelbar die Geschichtswissenschaft selbst ist, wenn man sie mit neuen Fragen füttert.

    Jan Plamper: Geschichte und Gefühl.
    Grundlagen der Emotionsgeschichte
    Siedler Verlag, 480 Seiten, 29,99 Euro
    ISBN: 978-3-88680-914-1