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Gefühlstheater aus der Hauptstadt

In ihrer jüngsten Ausgabe registriert die Zeitschrift "Theater heute" nicht unerfreut, dass unter dem neuen Intendanten am Schauspiel Frankfurt, Oliver Reese, nicht nur die Stühle bequemer geworden sind. Es gebe auch wieder Theaterkost nach bewährtem Rezept statt des Diskurstheaters seiner Vorgängerin.

Von Ruth Fühner |
    Sie sind wieder da. Die silbergrauen Herren mit dem Vorstandsetagenblick, die gradrückigen Damen aus den Villen im Vordertaunus. Lange hat man sie im Schauspiel Frankfurt nicht gesehen. Zu kantig, zu unruhig war der Stil, den die ehemalige Intendantin Elisabeth Schweeger verkörperte, zu herausfordernd ihr Versuch, der Bankenstadt den nervösen Puls zu fühlen. Aber das Schmuddelige und Brüchige, das manchmal verzweifelt Hilflose, dieses Geschrei, das auch dazugehörte - das ist jetzt erst mal weg.

    Der neue Intendant Oliver Reese präsentiert sich im Vergleich zu seiner Vorgängerin bescheiden. Nicht als intellektueller Überflieger, der die Leute verschreckt mit seinen weltumspannenden Thesen. Reese konzentriert sich aufs Kerngeschäft. Und das heißt, nach außen, vor allem Einladen und Werben. Die neue Bestuhlung im Schauspielhaus erstrahlt in Theatersignal-Rot, in der U-Bahn-Station buhlen die Losungen der Spielzeit in riesigen schwarzen Lettern auf blendendem Weiß um Aufmerksamkeit.

    Lang liegt die Zeit zurück, da Frankfurt sich als Kulturhauptstadt der Republik fühlen konnte. Mit der Saison-Eröffnung gab Reese dem Publikum erst mal das Gefühl zurück, doch irgendwie Hauptstadt zu sein. Michael Thalheimers beinah grandiose Inszenierung von Sophokles' "Ödipus/Antigone" sah seiner Berliner "Orestie" nicht ganz unähnlich - und die Herzen flogen ihm zu dafür, selbst wenn er das große Talent einer Constanze Becker sträflich verschenkte. Da kam Reeses aus Berlin direkt importierte Star-Inszenierung von Thomas Bernhards "Ritter, Dene, Voss" mit Constanze Becker, Ulrich Matthes und Almut Zilcher als Wiedergutmachung gerade recht.

    Dass es dem neuen Hausherrn vor allem darum geht, sein Ensemble zum Glänzen zu bringen, besiegelte er auch mit Racines "Phädra". Konzentriertes, intensiv leuchtendes Schauspielertheater, das die mörderische Liebesraserei der streng gefügten Alexandriner zum Vibrieren bringt. Die Zeit der Dekonstruktion scheint vorbei, man wärmt sich wieder an Geschichten. Und schon ist unübersehbar, dass Reese in Berlin gelernt hat, wie man mit Stil arm sein kann. Fast leere Räume, oft ist es nur ein schmaler Streifen vorn an der Rampe, der bespielt wird, bedrängt von hoch aufragenden Wänden, die, mal aus Holz, mal metallisch schimmernd, einen Eindruck des Kostbaren, Majestätischen vermitteln. Wohl nicht zufällig erinnert das an die Hochhaustürme des angrenzenden Bankenviertels.

    Doch auch das junge, das Bahnhofsviertelfrankfurt und das Apfelwein-Frankfurt lädt Reese in sein Haus. Etwa mit der sparsam inszenierten Krimilesungsreihe "Tatort Frankfurt" im Bretterverschlag der "Box". Die "Fliegende Volksbühne" des genialischen Volksschauspielers Michael Quast legte allerdings einen knalligen Klamauk-Fehlstart hin, und Heinrich Heines "Deutschland - Ein Wintermärchen" kam so jugendlich experimentierfreudig daher, dass es schon unbedarft wirkte.

    Mit Reeses Saisonstart wirkt das Schauspiel Frankfurt aufgeräumter als früher, aber auch bescheidener, fast in sich gekehrt. Der Anspruch, das Haus nach außen zu öffnen, direkten Einspruch zu erheben, einzugreifen in die gesellschaftlichen Umbruchprozesse "draußen" - diesen Anspruch hat es sich abgeschminkt. Womöglich begreift es damit die eigenen Möglichkeiten und ihre Grenzen besser als alle Versuche, die Kluft zwischen der Kunst und der Wirklichkeit in einem Akt des theatralischen Voluntarismus zu überspringen. Schade darum ist es trotzdem.