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Gegen das System Putin

"Die Elche haben keine Ahnung": Mit solchen Slogans sorgen die Quatsch-Demos von Organisator Artjom Loskutow seit einigen Jahren für Aufsehen. Ursprünglich waren die Protestzüge in Nowosibirsk eine reine Kunstaktion. Mittlerweile sind sie eine neue Form des Widerstands.

Von Maximilian Grosser | 04.08.2013
    Merkwürdige Protestzüge sind das, die da seit diesem Jahr immer wieder durch die verschiedenen Städte Russlands ziehen. Beispiel Nowosibirsk: Hier reiben sich Passanten am ersten Mai verwundert die Augen. Zum internationalen Kampftag der Arbeiterklasse ziehen Tausende Menschen durch die Straßen und präsentieren Plakate mit Slogans wie "Ich will in den Urlaub!" oder "Die Elche haben keine Ahnung." Einige tragen Tierkostüme oder kommen als Aliens daher, andere verstecken ihren Kopf unter einer Schicht Toastbrot. "Monstration" nennt der Aktionskünstler Artjom Loskutow seine Politinszenierungen:

    "Bei einem Vorbereitungstreffen mit der Stadtverwaltung in Nowosibirsk hat mir mal ein Polizeichef gesagt, dass er nicht versteht, was wir mit den Monstrationen wollen. Ganz einfach, sagte ich, wir wollen die Tradition der kommunistischen Erster-Mai-Feier wieder aufleben lassen. Als ich ihm dann ganz detailliert und mit einfachen Worten den Ablaufplan unserer Aktion beschrieb, hat er mich nur verständnislos angesehen."

    Noch vor einigen Jahren war der von Loskutow als Kulturveranstaltung getarnte karnevaleske Demonstrationszug eine auf Novosibirsk beschränkte Kunstaktion. Heute gehört diese absurde Widerstandsform gegen Korruption, Vetternwirtschaft, Umweltverschmutzung und politisches Establishment zum festen Repertoire der russischen Protestszene. Längst haben Demonstranten auch in anderen russischen Städten das politische Potenzial der von Loskutov kreierten "Monstrationen" entdeckt. Mit ihrer Aktionskunst geben sie Putins repressives Machtsystem der Lächerlichkeit preis, untergraben die Autorität seines Apparats und degradieren diesen zu einem Zirkusbetrieb, erklärt Alexander Formozov, Mitgründer einer Protestgruppe, die sich i-Decembrists nennt:

    "In Russland waren Künstler schon vor hundert Jahren mehr als nur Künstler. Bei einer der Demonstrationen, die im vergangenen Jahr stattgefunden haben, gab es eine Umfrage unter den Teilnehmern und die ergab, dass die Leute keine Politiker hören wollten, sondern Künstler. Auf den ersten Plätzen waren Dichter und Schriftsteller, und erst hinterher kamen die oppositionellen Politiker wie Nawalny."

    Die Formen des Protests scheinen dabei keine Grenzen zu kennen. Weil Putin politische Proteste immer stärker unterdrückt, protestieren etwa bei sogenannten Nanodemos nur noch Plüschtiere und Spielzeugfiguren für Bürgerrechte. Doch neben diesen humorvollen Varianten der Wut gegen das herrschende System gibt es auch Künstler, die ihm mit sehr deutlichen Parabeln antworten. Alexander Formozov verweist hier auf den Performer Pjotr Pawlenski:

    "Er hat eine sehr medienwirksame Aktion gemacht in Petersburg. Dazu wickelte er sich an einem öffentlichen Platz aus Protest gegen die Beschränkung der Freiheit in eine Rolle Stacheldraht ein. Und lag dann dort in dieser Rolle Stacheldraht. Die Polizei stand daneben, aber sie wusste nicht, wie sie damit umgehen soll."

    Mit solchen Aktionen haben sich russische Künstler in der Protestszene ihres Landes ein bisher nicht gekanntes Ansehen erworben und sind längst nicht nur mehr für ein Nischenpublikum interessant. Prominentes Beispiel dafür ist Pussy Riot.

    Auch wenn es nach außen den Anschein hatte, die Punk-Gebete der Band würden von weiten Teilen der russischen Öffentlichkeit verabscheut, so führten die Aktionen der Aktivistinnen zum Beispiel doch dazu, dass sich eine breite Masse der Demonstrierenden plötzlich mit Schwulen und Lesben solidarisierte und für deren Bürgerrechte eintrat. Künstler geben der russischen Protestbewegung also zunehmend eine eigene Sprache und Struktur. Und sie haben den jahrelangen Trend zur Vereinzelung vieler Menschen gestoppt. Diese Auffassung vertritt der Soziologe und Zeithistoriker Mischa Gabowitsch:

    "Das allerwichtigste an den Massendemos ist, dass sehr viele Menschen das Gefühl haben, ich bin nicht allein mit meinem Frust. Dazu tragen auch die neuen künstlerischen Formen bei. Deshalb war Pussy Riot ein unglaublicher Kristallisationspunkt. Für viele Menschen war das ein sehr positiver Anknüpfungspunkt, weil sie gemerkt haben, mit meinem diffusen Widerstand gegen die Diskriminierung von Frauen bin ich nicht allein."

    Ob Monstrationen, Nanodemos, Punk-Gebete oder Polit-Performance – immer nutzt die russische Kunstszene auch das Internet. Ihre Blogger begreifen sich längst als Sprachrohr dieser neuen Gegenkultur. Doch geht es inzwischen um mehr als nur um den Protest gegen Putins Regime. Mischa Gabowitsch:

    "Sehr vielen in der aktuellen Kunstszene geht es inzwischen vielmehr darum, auf die Gesellschaft einzuwirken. Also zum Beispiel den sehr verbreiteten Sexismus in der Gesellschaft zu bekämpfen. Und da reicht es nicht, wenn man die Leute anfeuert, weiter gegen Putin zu demonstrieren."

    Die russischen Künstler haben begriffen, dass der ursprünglich allein auf Putin fokussierte Protest sich auch auf andere Bereiche ausweiten muss – auf die grassierende Korruption, die abhängige Justiz, die Umweltprobleme, den Einfluss einer zunehmend reaktionären und die Gesellschaft spaltenden orthodoxen Kirche. Letzteres hat die Illustratorin Viktoria Lomasko zu ihrem Hauptthema gemacht. Seit einiger Zeit dokumentiert sie in Graphic Novels von der Orthodoxen Kirche gegen Künstler angestrengte Gerichtsprozesse, wie den gegen die Punkband Pussy Riot.

    "Pussy Riot sind in die Höhle des Löwen gegangen, in das tiefste Innere der orthodoxen Kirche. Trotzdem ging es bei dem Prozess nur um Putin, ohne dass sein Name genannt werden durfte. Die Richterin hat die Mitglieder von Pussy Riot immer unterbrochen, sobald sie Putin nur erwähnten. Das habe ich in einem Bild festgehalten, in dem eines der Mädchen aus einer Zelle schreit: "Dieses Gericht drückt den Willen eines einzigen Menschen aus."

    Viktoria Lomasko selbst sieht sich allerdings nicht nur als Protestkünstlerin. Vor allem versteht sie sich als Dokumentaristin und Chronistin eines das ganze Land erfassenden gesellschaftlichen Wandels. Dieser gesellschaftliche Wandel, da sind sich alle Beobachter einig, darf jetzt schon als historisch bezeichnet werden.