Archiv


Gegen den Wortstau

Winston Churchill, Isaac Newton, Marylin Monroe, Charles Darwin – von ihnen weiß man, sie alle haben gestottert, ohne dass ihnen geholfen werden konnte. Heute gibt es etwa 200 verschiedene Stottertherapien, doch Heilung ist nicht immer in Sicht.

Von Michael Engel |
    Durchschnittlich drei Therapien haben stotternde Menschen bereits erfolglos absolviert, wenn sie ins hessische Bad Emstal kommen zum Institut der Kasseler Stottertherapie. Eine Studie der Universität Kassel konnte zeigen, dass mehr als zwei Drittel der Patienten nach Abschluss der Therapie in weniger als drei Prozent der gesprochenen Silben "haken". Damit liegen sie unterhalb der so genannten "Auffälligkeitsschwelle" und werden wahrgenommen als normal sprechende Menschen.

    "Die neue Sprechweise ist entspannter als die andere"

    "Die Kira lernt gerade mit Hilfe des Computerprogramms, daß sie sehr bewußt spricht, vor allem mit dem weichen Stimmeinsatz und danach die Stimme sehr natürlich klingen zu lassen. "

    Rita Gerlin – Atem-, Stimm- und Sprechtherapeutin - paßt auf, daß Kira alles richtig macht. Kira steht vor dem Computer und spricht in ein Mikrofon. Sie soll alle Wörter weich, gedehnt und miteinander verbunden aussprechen. "Speak gentle" heißt das Biofeedback-Programm: Es verwandelt gesprochene Wörter in eine Stimmkurve, die auf dem Bildschirm erscheint.

    "Es sind Kurven, pro Silbe eine Kurve. Und diese Kurven werden unten aneinander gebunden. Wenn die Bindung richtig ist, kommt ein grüner Strich unten an. Wenn sie falsch ist, ist es halt eben rot."

    Eine Stunde lang sitzen die Kinder jeden Tag vor dem Computer, dann zeigen sie in freien Vorträgen vor der Gruppe, daß sie nicht mehr stottern, so wie der 12-Jährige Kevin:

    "Ich heiße Kevin Kleinert "

    Das Konzept der Kasseler Stottertherapie basiert auf einer sogenannten "Modifikation durch Verlangsamung". Redeflußstörungen können – wann immer sie auftreten – gemächlich gemeistert werden. Eine Studie der Universität Kassel belegt: 70 Prozent der Stotterer sprechen nach der Therapie wieder flüssig - wenn auch manchmal etwas langsamer. Und nicht nur Kinder, auch erwachsene Stotterer profitieren: Sprachtherapeut René Michael betreut gerade eine Gruppe, die zu einem dreitägigen Auffrischungskurs gekommen ist:

    "Macht eine Sekunde weiche Stimmführung. Und beschwert euch vom Thema her über den schlechten Sommer. Sommer 2005. "

    Die extreme Verlangsamung der Silben, die sowohl in Gruppen- als auch in Einzeltherapiestunden intensiv geübt wird, soll den Betroffenen ein Werkzeug an die Hand geben, knifflige Sprachsituationen besser meistern zu können. Später werden alltagssprachliche Intonationen geübt, um von der künstlich wirkenden Sprechweise wegzukommen. Sabine Speicher – Sonderschullehrerin in Saarbrücken – ist das Handicap kaum noch anzumerken.

    "Ich war jetzt im Oktober hier zum Intensivkurs, und war deswegen hier, weil ich gemerkt habe, daß ich mich um mein Sprechen kümmern muß. Ich habe das sehr lange vernachlässigt. Und ich habe mich beim Sprechen immer sehr verkrampft gefühlt. Also ich hatte so ein Gesamtgefühlt, das war sehr unwohl. "
    Heute spricht Sabine Speicher – die ins Rektorat ihrer Schule aufgestiegen ist – vor dem Lehrerkollegium, hält Vorträge, diskutiert mit Eltern. Die Kasseler Stottertherapie besteht aus einem dreiwöchigen Grundkurs, dann folgen im Halbjahresabstand zwei Auffrischungskurse, das Computerprogramm muß täglich – auch zuhause – eine Stunde am Tag absolviert werden.

    Hinzu kommen Übungen im Alltag. Bei "Schreibwaren Schmidt" in Bad Emstal soll Kursteilnehmer André Gonsior Papier kaufen:

    "Guten Tag, ich möchte für mein Bewerbungsschreiben ein bestimmtes Papier haben. Und zwar suche ich 120 Gramm und es müßte satiniert sein. (Frau Schmidt) Ja, dann schauen wir mal. "

    Ursprünglich hatte der 38-Jährige den Beruf des Betonbauers gelernt, um bloß nicht sprechen zu müssen, nicht aufzufallen. Momentan schult er zum Mediendesigner um – erlernt einen Kommunikationsberuf. Die Kasseler Stottertherapie, die von den Krankenkassen vollständig bezahlt wird, wurde von Dr. Alexander Wolff von Gudenberg entwickelt. Als Selbstbetroffener weiß er, wovon er spricht:

    "Es gibt bestimmt ab zu und zu mal Patienten, die eher so reagieren: Na, wenn der es selber nicht 100-Prozentig geschafft hat, was ist das wohl für eine Therapie. In der Regel, wenn die Patienten etwas Erfahrungen mit unterschiedlichen Therapien haben und jenseits der Pubertät sind, dann ist ihnen klar, daß es eine absolute Heilung eher eine Rarität ist. Bei den meisten ist es aber von Vorteil, weil sie einfach zu Recht annehmen können, daß ich wirklich weiß, wovon ich spreche, daß ich auch deren Nöte, Probleme im Alltag, die Durchdringung aller Lebensbereiche, daß ich das einfach aus eigener Erfahrung gut nachempfinden kann."