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Gegen die Kommerzialisierung des Kinos

Veiko Õunpuus Filmprojekt Projekt "60 seconds of solitude in the year zero" zeigt Filme, die jeweils nur eine Minute lang sind. Zu den berühmten Teilnehmern zählen neben Tom Tykwer der Iraner Rafi Pitts oder auch Brillante Mendoza von den Philippinen. Die Filme werden nach der Vorführung verbrannt.

Von Matthias Kolb |
    Alles begann mit einem kleinen Buch. Der estnische Regisseur Veiko Õunpuu bekam überraschend Besuch von seinem Freund, dem Schauspieler Taavi Eelmaa. Dieser hatte ein Manifest mit 60 Gedanken geschrieben, das die Kommerzialisierung des Alltags und des Films kritisierte. Veiko Õunpuu:

    "Eines Abends kam Taavi vorbei. Er war aufgekratzt und sehr glücklich. Er zeigte mir das Manifest und berichtete von seinem Plan: Er wollte einen Film machen und ihn sofort nach der Premiere verbrennen. Die Kunst sollte nur in der Erinnerung existieren. Ich fand die Idee sehr poetisch und wir legten los."

    Zwei Jahre später steht Õunpuu, dessen Film "Sügisball" 2007 in Venedig ausgezeichnet wurde, an einem Pier am Hafen von Tallinn: Der Wind pfeift von der Ostsee herüber, riesige Fähren laufen aus und Arbeiter überprüfen die zwölf Mal 20 Meter große Leinwand sowie den Projektor, der in einem Ballon an einem Kran befestigt ist. Mithilfe der Stiftung Tallinn 2011 konnte das Projekt "60 seconds of solitude in the year zero" finanziert werden. Allerdings wurde der Termin vom August auf Dezember verschoben, weshalb die 2000 meist jungen Zuschauer bei Minusgraden ausharren. Den Initiatoren passt das ins Konzept: Kino soll den Betrachter herausfordern, verstören, inspirieren - und Filme nicht einfach konsumiert werden. Weltweit sei solch neoliberales Denken verbreitet, doch die estnische Gesellschaft sei besonders infiziert, sagt der 39-jährige Ounpuu.

    "Ich bin in der Sowjetunion aufgewachsen. Dieses System war schlecht, keine Frage, aber in Estland hat sich nach dem Zerfall der UdSSR alles um 180 Grad gedreht. Es geht nur noch um Geld, hohe Gewinne und Geschäftsideen."

    Auf Filmfestivals, per Telefon und Email stellten Taavi Eelmaa, Veiko Õunpuu und ihre Mitstreiter das Projekt vor und luden Regisseure ein, einen einminütigen Film zu schicken - denn das Manifest besteht aus 60 Gedanken. Veiko Ounpoo:

    "Wir erstellten eine Liste mit unseren zwanzig Lieblingsregisseuren, die wir dann kontaktiert haben. Viele mochten die Idee, etwa Aki Kaurismäki oder Béla Tarr aus Ungarn, doch leider waren sie anderweitig beschäftigt. Also wurde der Kreis erweitert. Am Ende habe ich alle Filme zusammengesetzt."

    Zu den berühmten Teilnehmern zählen neben Tom Tykwer der Iraner Rafi Pitts, Brillante Mendoza von den Philippinen sowie die Koreaner Park Chan-Wook und Jee-woon Kim. Unter den Filmemachern, die zur Premiere nach Tallinn gereist sind, ist auch die Japanerin Naomi Kawase, deren Werke oft in Cannes gezeigt werden. Für ihren Beitrag hat sie ihren Sohn gefilmt:

    "Ich mochte das Projekt von Anfang an. Ich bin sehr gespannt, wie mein Sohn reagiert, wenn er sich selbst auf der großen Leinwand sieht - und wie lange er sich an diesen Moment erinnern wird."

    Die Ansätze der 55 Regisseure waren extrem verschieden: Auf Naturbilder folgte eine Lovestory aus Asien, auf Handybilder der Auszug aus einem Spielfilm. Zusammengehalten wurde "60 seconds of solitude in the year zero" durch die Musik einer Live-Band, die auf einem Schiff postiert war. Und dann, gegen 21:30 Ortszeit, kam das Feuer.

    Zunächst ging der Projektor in Flammen auf, dann entzündete ein Pyrotechniker die Zelluloidfilmrolle. Funken sprühten, die Zuschauer klatschten, aus Lautsprechern ertönte eine Frauenstimme.

    Und alle Augen richteten sich auf die Leinwand. Doch anstatt umzukippen, blieb sie stehen. Organisator Veikko Ounpoo wollte sich über die technische Panne nicht aufregen. Der Regisseur ärgerte sich mehr über die im Vorfeld geäußerte Kritik, es sei geschmacklos, Kunstwerke zu verbrennen:

    "Diese Leute argumentieren, dass schon die Nazis Bücher und Kunst verbrannt haben. Aber das lässt sich doch nicht vergleichen. Wir haben diese Kunstwerke geschaffen und nun beschlossen, sie anzuzünden, weil wir darin Schönheit finden. Wir wollen verhindern, dass Film zu einem Konsumgut oder einem Merchandiseprodukt verkommt."