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Gegengift gegen Fanatismus: Sich das Leben anderer vorstellen

Amos Oz wäre nicht der klare Analytiker gewesen, hätte er seinen Gastgebern in der Frankfurter Paulskirche nicht die Leviten gelesen. In seiner Rede zur Verleihung des Goethe-Preises ging es um das Gute. Und um wirksame Gegengifte gegen Fanatismus. Das sei neben dem Humor die Fähigkeit, sich das Leben anderer vorzustellen.

Von Jochanan Shelliem |
    Und auch wenn Felicitas von Lovenberg in der Laudatio den Dichter aus Arad als Fliege an der Wand im Kammerspiel der israelischen Wahlverwandtschaften apostrophierte, der Sohn des Bibliothekars, der 17 Sprachen sprach und sich aus der Distanz des Jerusalemer Vorortes Kerem Avraham, nach der zivilisierten Alten Welt gesehnt hat, wäre nicht der präzise formulierende, klare Analytiker gewesen, hätte er seinen Gastgebern nicht in der Paulskirche die Leviten gelesen. Um den Begriff des Guten also ging es in seiner Rede, der Israeli setzte biblisch an, begann in seiner Schulzeit, als es um die Thora und darin das Buch Hiob ging.

    "Als ich ein Kind war in Jerusalem, unterwies uns unser Lehrer an einer orthodoxen jüdischen Schule im Buch Hiob. Bis heute lernen alle israelischen Schulkinder das Buch Hiob. Unser Lehrer erzählte uns, wie der Satan den ganzen Weg von diesem Buch zum Neuen Testament, wie zu Goethes "Faust" und zu vielen anderen Werken der Literatur zurückgelegt hätte. Und wenngleich auch jeder Schriftsteller etwas neues aus dem Satan, aus unserem Teufel gemacht hatte, blieb er doch immer der gleiche Satan: kühl, amüsiert, sarkastisch und skeptisch. Der Zerstörer von Glaube, Liebe Hoffnung."

    Danach ein Streifzug über die Erscheinungsformen des Bösen in der Weltliteratur von Shakespeare bis Heinrich Heine, in der bis zum Anbruch der Moderne noch eines galt.

    "Seit dem Buch Hiob lebten Satan, Mensch und Gott bis vor kurzem in einem Haus. Alle drei schienen den Unterschied zwischen gut und böse zu kennen. Gott, Menschen und Teufel wussten, dass das Böse böse und das Gute gut war. Gott herrschte über das Gute; der Satan führte in die Versuchung des Bösen. Gott und Satan spielten auf dem gleichen Schachbrett. Der Mensch war die Figur. So einfach war das."

    Mit der Moderne, so Amos Oz habe sich das Böse als individuelle Gestalt verflüchtigt. Nach Freud, dem Goethepreisträger von 1930, existierten Dämonen nicht.

    "Mit anderen Worten: Einige der modernen Sozialwissenschaften waren der erste Versuch, Gut und Böse von der menschlichen Bühne zu fegen. Zum ersten Mal in der Geschichte waren Gut und Böse überformt von der Idee, dass Umstände immer für menschliche Entscheidungen und Handlungen, vor allem für menschliches Leid verantwortlich seien. Die Gesellschaft ist schuld. Die Kindheit ist schuld. Die Politiker sind schuld. Kolonialismus, Imperialismus, Zionismus und was sonst noch - alle sind schuld. So begann die große Weltmeisterschaft im Opfer-Sein. Zum ersten Mal seit dem Buch Hiob war der Teufel ohne eine Aufgabe. Er konnte sein altes Spiel mit den Köpfen und Herzen der Menschen nicht mehr treiben. Der Satan war entlassen. Das war die Moderne."

    Goethes Weimar, so Amos Oz sei für immer verschwunden. Weimar läge heute bei Buchenwald. Oz hieb in dieser Rede unbarmherzig auf die politischen Illusionisten und Pazifisten ein, als er enthüllte, dass die Mutter seines Schwiegersohnes in Frankfurt am Main zur Welt gekommen war, wurde er sogar zynisch:

    "Lotte Wreschner und ihre Schwester wurden nach Theresienstadt geschickt. Ich wünschte, ich könnte Ihnen erzählen, dass sie in Theresienstadt von Friedensdemonstranten mit der Losung "Make love not war" befreit worden wären. Aber in Wirklichkeit waren es nicht pazifistische Idealisten, sondern Soldaten mit Helmen und Maschinengewehren. Diese Tatsache vergessen wir israelischen Friedensaktivisten niemals, auch wenn wir gegen die Haltung unseres Landes gegenüber den Palästinensern kämpfen, auch wenn wir für einen lebbaren, friedlichen Kompromiss zwischen Israel und Palästina arbeiten."

    Insofern plädierte der geehrte Friedensaktivist den es aus der heiligen Stadt in den Kibbuz und 1986 in die Wüstenstadt Arad verschlagen hat mit eindringlichen Worten für die Wahrnehmung der individuellen Verantwortung, im Leben und auch in der Literatur, neben Humor sei ein sehr wirksames Gegengift gegen den Fanatismus, sich das Leben anderer vorzustellen.

    "Sich den anderen vorzustellen ist nicht nur ein ästhetisches Mittel. Es ist nach meiner Ansicht auch ein wichtiger moralischer Imperativ. Und wenn Sie mir versprechen, mein kleines Berufsgeheimnis nicht zu verraten: Sich den anderen vorzustellen ist auch ein tiefes, ganz subtiles menschliches Vergnügen. Vielen Dank."