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Gegenseitige Hemmung

Medizin. - Die Informationsverarbeitung des menschlichen Gehirns ist für die Neurowissenschaftler immer noch ein weitgehend unbekanntes Feld. Unklar ist beispielsweise, wie die verschiedenen Sinneseindrücke gefiltert werden und innerhalb von Sekundenbruchteilen aus ihrem Strom der lebenswichtige Impuls herausgesucht wird. Wissenschaftler der Boston University Medical School stellen in der jüngsten Ausgabe von "Nature Neuroscience" Versuche vor, die mehr Licht in dieses Gebiet bringen.

    Zur Not kann unser Gehirn innerhalb von Sekundenbruchteilen lebensnotwendige Reize von anderen unterscheiden und die gesamte Verarbeitungskapazität auf wenige Impulse konzentrieren. Wie dieser lebensrettende Mechanismus funktioniert, ist der Wissenschaft bislang nicht klar. Allerdings gibt es Vorstellungen davon. Claus Hilgetag von der Boston University Medical School: "Eine Erklärung ist, dass die Aufmerksamkeit durch den Wettbewerb der beiden Gehirnhälften zustande kommt, wobei ein starker Reiz auf der einen Seite die andere Gehirnhälfte sozusagen zum Schweigen bringt." Man kann sich das etwa analog zum Tauziehen vorstellen. Beide Seiten beanspruchen etwa gleichstark das Tau, in dem Fall die Aufmerksamkeit. Taucht in einer Hälfte des Gesichtsfeldes jedoch ein starker Reiz auf, zerrt die zuständige Gesichtshälfte urplötzlich sehr stark an dem Tau und bringt die andere damit ins Wanken. Ist der Reiz stark genug, wird der Widerstand der anderen Gesichtshälfte gebrochen und die Aufmerksamkeit ungeteilt diesem Reiz zugewandt.

    Hilgetag und seine Kollegen haben diese Hypothese an Versuchspersonen überprüft, bei denen sie gezielt einzelne Hirnregionen abschalteten. Sie erzeugten einen geringen elektrischen Strom, der die Signalverarbeitung in der entsprechenden Region kurzzeitig lahm legte. Und tatsächlich konnten die Probanden auf der der gestörten Hirnregion gegenüberliegenden Seite des Gesichtsfeldes kaum noch etwas wahrnehmen. Auf der anderen Seite des Gesichtsfeldes verbesserte sich ihre Wahrnehmungsfähigkeit dagegen erstaunlich, so als ob eine Hemmung weggefallen sei. Offenbar, so der Schluss der Neurowissenschaftler, funktioniert die Aufmerksamkeitsregulierung im Gehirn tatsächlich auf ähnliche Weise wie das Modell.

    [Quelle: Andrea Vogel]