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Gegenseitige Schuldzuweisungen

Nach der Unwetterkatastrophe in Istanbul gehen die Aufräumarbeiten weiter. Betroffen sind vor allem die schnell errichteten Viertel, in denen viele Zuwanderer ein neues Zuhause gefunden haben. Gegenseitig schieben sich Behörden, Politiker und Betroffene die Schuld am Geschehenen zu.

Von Gunnar Köhne | 14.09.2009
    Bulldozer schieben in Ikitelli zusammen, was die Flut vom vergangenen Mittwoch übrig gelassen hat: Bettgestelle, Matratzen, Schranktüren, verschlammte Kleider. Die Menschen haben ihr zerstörtes Gut einfach auf die Straße geworfen, neuer Regen hat die Aufräumarbeiten verzögert. Zwei Meter hoch schossen die braunen Wellen durch die Straßen, bis in den ersten Stock hinauf. Die verzweifelten Bewohner haben Löcher in die Hauswand gebohrt, damit das Wasser aus ihren Wohnungen wieder abfließt. Cemal Keskin steht knöcheltief im Schlamm des Kellergeschosses seines vierstöckigen Hauses und zeigt auf die Reste einer Zimmerwand:
    "Hier wohnte ein frisch verheiratetes, junges Paar zur Miete. Als das Wasser einbrach, wurde die Wand niedergerissen und begrub die junge Frau unter sich. Ihr Mann konnte sie aber im letzten Moment retten."
    Das Wohnviertel liegt nur knapp hundert Meter von der Stadtautobahn entfernt, ein erst vor Kurzem eröffnetes Einkaufszentrum strahlt von der anderen Seite herüber. Vor 20 Jahren war hier noch Brachland, die ersten Migranten kamen vom Schwarzen Meer. Cemal Keskin ist einer von ihnen, er stammt aus der Schwarzmeerstadt Ordu – wie fast alle Einwohner dieser Straße. Ihre zum Teil unverputzten Häuser entstanden nach und nach, wie Keskins Nachbar Ismail Gönül berichtet:
    "Als ich hier vor 24 Jahren anfing zu bauen, brauchte ich keine Baugenehmigung. Die kam hinterher. Dann habe ich nach und nach aufgestockt. Heute leben in den vier Stockwerken ausschließlich Verwandte von mir aus Ordu."
    Ob Erdbeben oder Überschwemmungen – es sind vor allem die hastig errichteten Wohnviertel der Binnenmigranten, die in Istanbul immer wieder Naturkatastrophen zum Opfer fallen. Can Altay, Istanbuler Stadtplaner und Architekt, sieht dafür eine Reihe von Ursachen:
    "Die Infrastruktur kam in diesen Gegenden immer erst an zweiter Stelle, das heißt: Erst waren die Häuser da, dann kamen Straßen, Kanalisation und so weiter. Und es wurde nie richtig untersucht, ob diese Gebiete für eine Bebauung überhaupt taugen, ob sie erdbeben- oder flutgefährdet sind. Und dann kommt noch hinzu, dass die Neuankömmlinge natürlich immer möglichst billig bauen."
    Die Stadtverwaltung von Istanbul schiebt den Opfern die Schuld zu – sie hätten in Ikitelli ein nahes Flussbett zubetoniert und damit die Katastrophe heraufbeschworen. Die Bewohner des Viertels wehren sich gegen die Vorwürfe. Das Flussbett sei von dem Einkaufszentrum und von den Fabriken eingeengt worden. Tatsächlich machten schon 1997 Ingenieure der Istanbuler Wasserwerke die damalige Stadtregierung auf drohende Überschwemmungen aufmerksam. Der Oberbürgermeister hieß damals noch Tayyip Erdogan. Türkische Zeitungen zitierten aus dem Bericht, dass von den 174 im Stadtgebiet fließenden Flüssen, Kanälen und Bächen 58 "hochgefährlich" seien.

    Nun hat Bürgermeister Kadir Topbas angekündigt, unmittelbar an den Flüssen errichtete Bauten abreißen zu lassen – Bauten, die einst von der Stadt legalisiert worden waren. Auch Hausbesitzer Cemal Keskin beklagt die Scheinheiligkeit der Politiker:
    "Wenn das hier alles gesetzlos errichtet worden ist, warum kommen sie dann hierher und kassieren Steuern für Straßen und Abwasser? Und wenn Wahlen bevorstehen, dann verteilen sie sogar zusätzliche Baugenehmigungen!"
    Ein Lautsprecherwagen der Stadtteilverwaltung fährt durch die verheerten Straßen, man fordert die betroffenen Menschen auf, Unterstützung zu beantragen. Doch die beachten das Fahrzeug gar nicht.

    Wir würden das Viertel gerne verlassen, sagen die Bewohner von Ikitelli – bloß wo sollen wir hin? Zurück ins Dorf am Schwarzen Meer, wo es noch weniger Arbeit gibt als hier in Istanbul? Sie werden also bleiben. Auf die Bordsteinkante ihrer Straße wollen sie eine niedrige Mauer setzen. Sie wissen: Die nächste Überschwemmung kommt bestimmt.