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Gegner des Selbstbetrugs

"Das trunkene Land" heißt der Erzählband des chinesischen Schriftstellers Lu Xun (geboren 1891), der nun im Unionsverlag Zürich erschienen ist. In 14 Erzählungen rechnet der Autor mit den Sitten seiner Heimat ab, einer Gesellschaft von "Menschenfressern".

Von Astrid Nettling | 01.02.2010
    Lu Xun gilt als der Vater der modernen chinesischen Literatur. Bereits 1994 ist von ihm im Unionsverlag eine sechsbändige Werkausgabe mit Erzählungen und Essays erschienen, die inzwischen vergriffen ist. Daher die Entscheidung, wenigstens einen Band mit einer repräsentativen Auswahl von 14 Erzählungen und einem kurzen Prosagedicht aus dieser Werkausgabe neu herauszugeben. Der Titel "Das trunkene Land" entstammt diesem Prosagedicht aus dem Bürgerkriegsjahr 1931, worin Lu Xun den anhaltend vernunftlos wirren Zustand Chinas beklagt. Für den Bonner Sinologen Wolfgang Kubin, der seinerzeit die sechs Bände ediert und auch in großen Teilen übersetzt hat, ist diese neue Ausgabe sehr zu begrüßen.

    "Er ist hochaktuell und nicht nur ein chinesischer Schriftsteller, er ist ein Weltschriftsteller, der in allen Landen gelesen und verstanden werden kann."

    1881 kommt Lu Xun in einer angesehenen Beamtenfamilie zur Welt. Früh erhält er die klassische Ausbildung für die damals übliche Beamtenlaufbahn. 1896 stirbt sein Vater aufgrund rückständiger Heilmethoden. 1902 geht er zum Medizinstudium nach Japan, das nach westlichem Vorbild ausgerichtet ist. Anlässlich eines Lichtbildvortrags fällt ihm jedoch der abgestumpfte Voyeurismus seiner Landsleute bei der Hinrichtung eines chinesischen Spions im Japanisch-Russischen Krieg auf. Dies lässt in ihm die Überzeugung reifen, dass nicht Krankheit und Tod als das größte Unglück zu betrachten seien, wichtiger sei es, den Geist und die Seele seiner Landsleute zu kurieren. Er bricht sein Medizinstudium ab und kehrt nach China zurück.

    1911, nach dem Sturz des Kaiserhauses und der Gründung der Republik, arbeitet er zunächst im neu geschaffenen Bildungsministerium. 1918 veröffentlicht er seine erste Erzählung "Tagebuch eines Verrückten". Diese und "Die wahre Geschichte des Herrn Jedermann", die 1921 entsteht, begründen seinen Ruhm als Schöpfer der modernen chinesischen Literatur. Im "Tagebuch eines Verrückten" findet sich Lu Xuns berühmte Diagnose der chinesischen Gesellschaft als einer Gesellschaft von "Menschenfressern", womit er das konfuzianische Wertesystem und seine jahrtausendealte Ethik als zutiefst menschenverachtend brandmarkt.

    "Dass man seit alters Menschen gefressen hat, war mir noch in Erinnerung, allerdings nur vage. Ich bin daher die Geschichtsbücher durchgegangen; sie waren ohne Jahresangaben, und auf jeder Seite standen krumm und schief die Worte "Humanität, Rechtlichkeit, Wahrheit und Tugend" gekritzelt. Da ich ohnehin nicht schlafen konnte, las ich aufmerksam die halbe Nacht, bis ich zwischen den Zeilen die zwei Worte erkannte, aus denen jedes Buch bestand: "Menschen fressen!"

    Ein menschenverachtendes System aber bringt einen verächtlichen Menschentyp hervor – den "Herrn Jedermann". In diesem Dutzendmenschen geißelt Lu Xun mit bitterbösem Spott die allgemeine Krankheit seines Volkes, deren Krankheitsbild lautet: den Starken fürchten, den Schwachen demütigen, Niederlagen in Siege umdeuten, unfähig sein, aus Erfahrungen zu lernen, und sich statt dessen Selbsttäuschungen hingeben.

    "Formal war Herr Jedermann der Unterlegene: Man packte ihn an seinem dünnen Zopf und knallte ihn fünfmal mit dem Kopf gegen die nächste Mauer und zog völlig befriedigt und siegreich von dannen. Doch noch keine zehn Sekunden waren vergangen, als auch Herr Jedermann völlig befriedigt und siegreich von dannen zog. Er glaubte nämlich der "Erste unter den Selbstverächtern" zu sein. Und sah er von den "Selbstverächtern" einmal ab, so war er "der Erste". Hieß nicht auch der Examenserste bei den höchsten Staatsprüfungen "der Erste"? Eben! Was glaubt ihr eigentlich, wer ihr seid!"

    In seinen Erzählungen wimmelt es von solchen Gestalten: lächerlichen wie tragischen Opfern von Aberglauben und überkommenen konfuzianischen Traditionen einerseits, aber ebenso von intellektuellen Selbsttäuschern hinsichtlich der geistigen und nationalen Erneuerung Chinas, mit deren Zielsetzung die junge Republik angetreten war. Lächerlich oder tragisch auch sie, deren revolutionärer Elan beim abendlichen Mah-Jongg-Spiel verpufft wie in der Erzählung "Ein Gelehrter namens Gao" oder die ihr Scheitern nach Anpassung an das ewig Gestrige in einen traurigen Sieg umdeuten.

    "Ich habe vollkommen versagt – und habe doch gesiegt", erklärt der Lehrer Lianshu in der Geschichte "Der Einsame". Stellt die orthodoxe chinesische Literaturwissenschaft Lu Xun gern als einen glühenden Vertreter jener geistigen und nationalen Erneuerungsbewegung dar, so erteilen seine Erzählungen in Wahrheit eine bittere Lektion in Sachen Brüchigkeit derartiger Heilserwartungen, wie sie immer wieder seit der Moderne gehegt werden. Eine Lektion, die er und seine anfängliche Hoffnung auf Gesundung seiner Landsleute selbst hat lernen müssen. "Auch ich hatte in meiner Jugend viele Träume", schreibt er selbstironisch 1922 in der Vorrede zu seinem ersten Erzählband. Diese Einsicht in die Hinfälligkeit von Heilsversprechungen, egal unter welchem weltanschaulichen Banner sie ausgerufen werden, macht ihn zu einem wichtigen und bedeutenden Schriftsteller der Moderne auch über China hinaus.

    "Lu Xun ist ein radikaler Denker, und deswegen haben viele Angst vor ihm, er gehört zu denen, die sich nicht selber betrügen wollen, er lässt diesen Selbstbetrug nicht zu, er ist unerbittlich. Und meiner Meinung nach können wir durchaus seine Analyse der chinesischen Gesellschaft oder menschlichen Gesellschaft überhaupt auch über seinen Tod 1936 hinausgehend weiter verfolgen und Einsicht gewinnen in die chinesische Gesellschaft, wo der Selbstbetrug nach wie vor gang und gäbe ist."

    Nach einem unruhigen Leben in der unruhigen Zeit der Republik, zermürbt durch Kontroversen mit Zeitgenossen, Zensur und spätere Verfolgung durch die Guomindang, stirbt Lu Xun mit knapp 55 Jahren an Tuberkulose. Obgleich zutiefst desillusioniert hinsichtlich der Chancen, die menschlichen Verhältnisse tatsächlich menschenwürdiger zu gestalten, wusste er nur zu gut, dass auch "die Verzweiflung trügt wie die Hoffnung". So ist in vielen seiner Erzählungen trotz allem ein verhaltenes Fragen zu spüren nach einem Weg zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Seine Erzählung "Heimat" endet mit den Worten:

    "Es lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, dachte ich, ob es schon immer Hoffnung gegeben hat oder nicht. Es verhält sich wie mit den Wegen auf der Erde, ursprünglich gab es keine, doch als immer mehr Menschen die Erde beschritten, entstanden auch Wege."

    Lu Xun: Das trunkene Land. Aus dem Chinesischen von Raoul Findeisen, Wolfgang Kubin, Florian Reissinger u.a. Unionsverlag Zürich, Zürich 2009. 251 Seiten, 16,90 Euro.