Dieses Gerichtsverfahren ist ohne Beispiel in der Geschichte der Republik Türkei: 4000 Seiten Anklageschrift, fast 300 Angeklagte, 20 Staatsanwälte, Dutzende Verteidiger und ein eigens für den Prozess gebauter Gerichtssaal vor den Toren Istanbuls.
Auf der Anklagebank sitzen überwiegend Bürger, die am Bosporus noch vor kurzem pauschal zu den "ehrenwerten Mitgliedern" der Gesellschaft gezählt worden wären: Journalisten, Lehrer, Professoren, Beamte, Politiker und Armeeoffiziere. Es ist nicht nur ein Mammut-Verfahren. Es ist ein Vorgang, der an die Grundfesten des bislang geltenden herrschenden Systems in der Türkei rüttelt.
Die Angeklagten sollen Mitglieder eines umstürzlerischen Geheimbundes mit dem Namen "Ergenekon" sein. Die Gruppe, die sich nach der mythischen Urheimat der Türken benannt hat, soll Attentate und Anschläge geplant und durchgeführt haben. Ihr Ziel: Die Stimmung im Land so weit anzuheizen, dass die Armee einen Grund zum Putschen erhält. In der Öffentlichkeit und in den Medien sollte die derzeitige gemäßigt religiöse Regierung als verantwortlich dargestellt werden, um den Staatsstreich zu rechtfertigen. Doch der Plan wurde vereitelt, Dutzende mutmaßliche Verantwortliche in drei Verhaftungswellen seit 2007 festgesetzt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen "Bildung einer terroristischen Vereinigung". Noch nie ist in der Türkei mit solcher Härte gegen den tiefen Sumpf des extremen Nationalismus vorgegangen worden. Und vor allem wurde noch nie zuvor die bislang so allmächtige Armeeführung herausgefordert.
In der 85-jährigen Geschichte der türkischen Republik putschte sich das Militär drei Mal an die Macht - zuletzt 1980. Jedes Mal begründeten die Generäle ihr Eingreifen damit, dass sie das Land vor "inneren Feinden" retten müssten. Damit gemeint waren mal die politische Linke, mal die religiöse Rechte. Auch nachdem die Armee die Macht wieder in die Hände von gewählten Regierungen übergeben hatte, hatte sie ihre Aufpasser: Neben offiziellen Institutionen gibt es ein militärisch-bürokratisches Netzwerk, das "tiefer Staat" genannt wird und das immer wieder intervenierte, um die vermeintlich "wahren Interessen" des Landes zu schützen - wenn nötig auch mit Gewalt.
Der Ergenekon-Skandal nahm seinen Lauf durch einen Zufallsfund im März 2001: Im Zusammenhang mit einem betrügerischen Autoverkauf durchsuchten Polizisten die Istanbuler Wohnung eines Mannes namens Tuncay Güney - ein, wie sich später herausstellte - langjähriger Mitarbeiter des türkischen Geheimdienstes MIT. Dabei wurden sechs Säcke mit Beweismaterial über ein Netzwerk mit dem Namen Ergenekon sichergestellt. Der Fund wurde zunächst nicht weiter untersucht.
Viele Jahre später, im Juni 2007 erhielten die Behörden von einem anonymen Anrufer einen Hinweis auf ein Waffenversteck in einem Istanbuler Vorort. Tatsächlich befanden sich an dem beschriebenen Ort zahlreiche Handgranaten sowie Plastiksprengstoff. Bei anschließenden Hausdurchsuchungen fanden die Ermittler auf dem Computer eines pensionierten Unteroffiziers ein Dokument mit dem Titel "Ergenekon". Darin wurden Struktur und Ziele eines paramilitärischen Geheimbundes beschrieben. Das Dossier belegt, wie die Mitglieder der nationalistischen Verschwörergruppe einen gewaltsamen Umsturz der Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan planten.
Der zuständige Staatsanwalt ließ sich daraufhin noch einmal die mysteriösen Papiersäcke des Betrügers Güney bringen. Die Ermittlungen in Sachen Ergenekon nahmen ihren Lauf.
Was seitdem ans Tageslicht gebracht wurde, ist auch für den Istanbuler Publizisten Oral Calislar stellenweise unübersichtlich, voller Widersprüche und lässt unzählige Fragen unbeantwortet. Im Kern aber offenbare das Ergenekon-Verfahren Erkenntnisse, die die Türkei verändern werden:
"Das Ergenekon-Verfahren ist, wenn man so will, eine Abrechnung mit all denjenigen in der Türkei, die noch immer mit gewaltsamen Umstürzen liebäugeln. Hier steht also nicht nur eine Gruppe von Menschen vor Gericht, sondern eine politische Mentalität, mit der die Türkei viele Jahrzehnte hat leben müssen. Ich bin überzeugt, dass die Anklage und die Verhaftungen weitere politische Morde verhindert haben."
Die Anklageschrift geht davon aus, dass die Organisation über verschiedene Sektionen verfügt, die - ähnlich dem Zellenprinzip - unabhängig und ohne Kenntnis voneinander agierten. Das soll das breite Spektrum von Angeklagten - Politiker, Professoren, Offiziere, Journalisten - erklären.
Vorläufer der Gruppe waren bereits in den 1990er-Jahren aktiv gewesen. Die Killertrupps des gefürchteten Geheimdienstes der Gendarmerie, JITEM, machten damals Jagd auf Menschenrechtler und vermeintliche Sympathisanten der kurdischen Guerilla PKK. Sie nannten sich "Konter-Guerilla". Durch verdeckte Operationen und Morde sollte die PKK geschwächt werden. Ein ehemaliger Kommandeur des JITEM ist heute eine der Schlüsselfiguren in den Ergenekon-Ermittlungen.
Die Pläne zu einem Staatsstreich jedoch reiften erst nach dem Wahlsieg der gemäßigt-religiösen AK-Partei 2002. Premier Tayyip Erdogan war mit dem Versprechen angetreten, das Land für den angestrebten EU-Beitritt zu reformieren. Der Einfluss des Militärs sollte verringert, Minderheiten mehr Rechte bekommen und mit Nachbarn wie Zypern der Frieden gesucht werden.
Die bislang in der Türkei herrschende Nomenklatura aus Militär, Juristen und Istanbuler Großbürgertum fühlte sich von dieser Politik herausgefordert. Ihre staatliche Ordnung lebte bis dahin von der Existenz innerer wie äußerer Feinde. Wer das Prinzip des Laizismus in Frage stellt, wird der religiösen Reaktion angeklagt. Wer mehr Rechte für Kurden fordert, fällt unter Separatismusverdacht. Nicht Demokratie, sondern die türkische Nation und der Schutz des türkischen Staates stehen für sie im Mittelpunkt. Ihnen ist alles andere unterzuordnen. Sie geben vor, damit im Sinne des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk zu handeln.
Im Juli 2003 erkundeten die beiden Generäle Hursit Tolon und Sener Eruygur - heute Hauptangeklagte im Ergenekon-Verfahren - im Generalstab die Stimmung: Sollten wir nicht eingreifen? Die Islamisten, so klagten sie, übernähmen die Macht, verkauften das Land an die EU und das türkisch besetzte Nord-Zypern durch die Wiedervereinigungsgespräche auf der Insel gleich mit. Die Mehrheit der Kommandeure hält die Zeit aber noch nicht für reif. Die Staatsstreichpläne bleiben dennoch auf dem Tisch. Der damalige Generalstabschef Hilmi Özkök, ein Mann des Ausgleichs mit der Regierung, stellt Eruygur und Tolun zur Rede, doch die bestreiten ihre Putschgelüste. Scheinbar zufällig wird gegen Özkök in einigen Medien eine Kampagne begonnen, die ihn als zu "weich" gegenüber den Feinden der Nation hinstellt.
Der damalige Marinebefehlshaber Özden Örnek führte in jenen Wochen in einem Tagebuch penibel Protokoll über die weiteren Planungen der Gruppe. Die Aufzeichnungen wurden später in einer Zeitschrift veröffentlicht: Ihnen zufolge ging es den Beteiligten darum, die innenpolitische Situation so sehr eskalieren zu lassen, dass ein Einschreiten des Militärs zur Rettung des Landes unausweichlich erscheinen musste. Dazu mussten zunächst die Verbündeten in den Medien aktiv werden.
Die Pläne der Regierung zur Freigabe des Kopftuches an türkischen Hochschulen kam ihnen als Vorlage gerade recht: In großen Aufmachern wurde etwa in der kemalistischen Tageszeitung Cumhuriyet die Gefahr eines islamischen Gottesstaates beschworen. Mustafa Balbay, leitender Redakteur von Cumhuriyet, zählt die Staatsanwaltschaft heute zu einem der Ergenekon-Drahtzieher. Er sitzt mittlerweile in Untersuchungshaft
Nach der publizistischen Offensive schickte Ergenekon - laut Anklage - die Auftragskiller los: 2006 wird eine Handgranate in den Vorhof des Redaktionsgebäudes von Cumhuriyet geworfen. Verletzt wird niemand. Kurz darauf tödliche Schüsse auf einen Richter des Verwaltungsgerichtshofes in Ankara, der an einem Urteil gegen eine kopftuchtragende Studentin beteiligt gewesen war. Beide Einzeltäter, so wird schnell gemutmaßt, sollen von Islamisten gedungen worden sein. Die landesweite Empörung über die Anschläge ist groß, Minister der AK-Partei werden auf der Beerdigung des Richters fast gelyncht. Doch beide Attentate, davon ist die Staatsanwaltschaft mittlerweile überzeugt, gehen in Wirklichkeit auf das Konto von Ergenekon.
Es folgen Anschläge auf Angehörige christlicher Minderheiten. Die Istanbuler Tageszeitung Radikal berichtete, im Rahmen der Ergenekon-Ermittlungen sei ein Dossier der Heeresleitung für den Ägäischen Raum aufgetaucht, aus dem hervorgeht, in welchem Umfang die Aktivitäten christlicher Kirchen vom militärischen Geheimdienst erfasst wurden. In dem Dossier wird behauptet, dass insbesondere in neun Regionen die missionarischen Tätigkeiten bedrohlich zugenommen hätten. In sieben dieser neun Regionen kommt es anschließend zu zahlreichen Übergriffen auf Kirchenvertreter. Auf das deutsche Kulturzentrum "St. Paul" in Antalya wird im April 2005 ein Brandsatz geworfen. Ein Jahr später wird eine assyrische Kirche in Diyarbakir überfallen, die Gemeindemitglieder bedroht. Im Februar 2006 tödliche Schüsse auf den italienischen Priester Andrea Santoro in Trabzon. Es folgt der Mord an dem bekannten armenischen Journalisten Hrant Dink im Januar 2007. Keine drei Monate später werden drei christliche Missionare in Malatya brutal hingerichtet - unter den Opfern ist auch ein deutscher Theologe.
Auch wenn die eindeutige Zuordnung zu der Ergenekon-Gruppe noch nicht gelungen ist: Die Beteiligung oder zumindest die Duldung dieser Morde durch einzelne Polizisten, Militärs und Geheimdienstler gilt als sicher. Aufgetauchte Todeslisten belegen, dass das Morden weitergehen sollte: Darin aufgeführt sind Namen kritischer Journalisten und Angehörige der alewitischen und kurdischen Minderheit. Auch Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk soll auf der Abschussliste gestanden haben. Nicht nur säkulare und religiöse Gruppen, auch die verschiedenen Minderheiten sollten gegeneinander und gegen den Staat aufgebracht werden. Die Anklage behauptet im Besitz von Unterlagen zu sein, die belegen, dass in rund 40 türkischen Städten gewalttätige Demonstrationen geplant waren, die zu blutigem Chaos führen sollten.
Im Frühjahr 2007 fanden landesweit Großdemonstrationen gegen die angebliche islamistische Gefahr statt- auch das offensichtlich Teil der Strategie der Putschisten. Zu den Mitorganisatoren gehörten patriotische Bürgervereine, in denen Ergenekon-Symphatisanten das Sagen hatten. Hunderttausende versammelten sich im April 2007 vor dem Mausoleum von Staatsgründer Atatürk um für eine säkulare Türkei einzutreten. Das brachte den Nationalisten auch Sympathien im westlichen Ausland ein. Dass auf den Demonstrationen auch Parolen gegen die EU und christliche Missionare gerufen wurden, wurde dort meist überhört.
Schließlich zündeten die Umstürzler mit Hilfe ihrer Verbündeten im Justizapparat eine weitere Eskalationsstufe: Ein nationalistisch gesinnter Generalstaatsanwalt eröffnete ein Verbotsverfahren gegen die AK-Partei. Die Regierung sollte zum Abdanken gezwungen werden. Der Plan scheiterte: Das Verfassungsgericht lehnte den Verbotsantrag im Juli 2008 ab. Zu diesem Zeitpunkt liefen die Ermittlungen in Sachen Ergenekon bereits auf Hochtouren, etliche der Beschuldigten saßen in Untersuchungshaft. Das Netzwerk Ergenekon war am Ende.
Es gibt wohl nur noch sehr wenige, die wirklich einen Überblick darüber haben, wie viele Personen im Laufe der Ergenekon-Ermittlung bislang festgenommen wurden.
Findet die Aufarbeitung wirklich im Rahmen rechtstaatlicher Grundsätze statt, fragen viele kritische Beobachter ? Ist das Gericht in dem westtürkischen Silivri tatsächlich in der Lage ist, Anklageschrift und eingereichtes Beweismaterial sorgsam zu prüfen? Das Beweismaterial - Unterlagen, Tagebuchnotizen und Abhörprotokolle - hat immerhin einen Umfang von über 300.000 Seiten.
Darüber hinaus stützt sich die Anklage häufig auf abgehörte Telefongespräche, die in anderen Ländern vor Gericht gar nicht hätten genutzt werden dürfen. Oder sie beruft sich auf geheime Zeugen, die selbst in dem Massenprozess nicht erscheinen müssen.
Und bei aller Sympathie für diese juristische Abrechnung waren auch ausgewiesene Demokraten, die jeder Sympathie mit potenziellen Putschisten unverdächtig sind, darüber entsetzt, mit welcher Rücksichtslosigkeit die Polizei bisweilen bei ihren Razzien und Verhaftungen vorging. Auch schwer Kranke wurden im Morgengrauen abgeführt. Die Ermittler werfen das Netz sehr weit aus, und immer wieder geraten Personen in Verdacht, von denen Beobachter annehmen, sie sollen nur eingeschüchtert werden - weil es prominente Stimmen der Opposition sind.
Auch Deniz Baykal, Chef der oppositionellen Republikanischen Volkspartei, CHP, wirft der Regierung vor, sie nutze "Ergenekon" als bequeme Chiffre, um für eine säkulare Gesellschaftsordnung eintretende Gruppen mundtot zu machen:
"Wir werden nicht zulassen, dass die Türkei einem Regime der Angst zum Opfer fällt. Dass ehrenwerte Akademiker und Republikaner in diesem Land unter Druck gesetzt werden. Wir werden die wahren Hintergründe dieser Ereignisse ans Licht bringen!"
Regierungschef Tayyip Erdogan wehrt sich gegen die Vorwürfe:
"Sind denn nicht Handgranaten und Maschinengewehre in Erdlöchern gefunden worden? Wer hier ein Schreckensregime errichten will - das ist doch da für alle in den vergangenen Monaten sichtbar geworden! Hier werden keine Organisationen oder Institutionen vor Gericht gestellt, sondern Einzelne für die von ihnen begangenen Straftaten! Niemand soll glauben, er stehe in diesem Land über dem Gesetz!"
Und das Militär? Das hält sich zum Ergenekon-Komplex weitgehend bedeckt. Zu kompromittierend sind die Enthüllungen über das Treiben einiger Top-Generäle. Das Ansehen der Armee hat Schaden gelitten. Darum nimmt es der jetzige Generalstabsvorsitzenden Ilker Basbug hin, das nicht nur ehemalige, sondern auch aktive Offiziere in der Türkei neuerdings vor einem zivilen Gericht angeklagt werden können. Das wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen.
Dass sich Basbug zu den Verhaftungen etlicher seiner Kameraden nicht äußert, mag - so eine Vermutung - auch daran liegen, dass sie ihm nicht ungelegen kommen. Denn der Viersternegeneral zählt selbst zur europafreundlichen Fraktion in der Armeeführung. Ihr gegenüber stehen die "Eurasier" - Offiziere, die statt mit Europa und den USA lieber ein stärkeres Bündnis mit Russland anstreben. Dieser Gruppe entstammen auch die angeklagten Putschisten.
Die einen betrachten das Ganze als Hexenjagd, die anderen als überfällige Aufarbeitung der Vergangenheit. Letztere sagen, dass es zur Festigung von Demokratie und Rechtstaatlichkeit erforderlich ist, Personen zur Rechenschaft zu ziehen, die sich in der Vergangenheit als immun und dem Recht nicht unterworfen betrachtet haben. Auch der Publizist Oral Calislar meint, der Ergenekon-Prozess könnte in der Türkei eine Wende hin zu einer Zivilgesellschaft einleiten:
"Der Putsch von 1980 hat das politische System der Türkei militarisiert. Seitdem steht das Parlament unter der Herrschaft des Militärs. Aber durch die Demokratisierung und die Annäherung an die EU geriet deren Rolle in den vergangenen Jahren ins Wanken. Die Forderung, dass die Armee sich wie in anderen Ländern auch nicht länger in die Politik einmischen sollte wurde immer lauter."
Umfragen zeigen, dass rund 60 Prozent der Türken von der Existenz des Ergenekon-Netzwerkes überzeugt sind und das Gerichtsverfahren befürworten. Viele liberale Demokraten hätten sich gewünscht, dass die zivile Gesellschaft der Türkei gegen die Vormundschaft des Militärs auf begehrt hätte, und nicht eine religiös geprägte Partei, die immer im Verdacht steht, die Vormundschaft des Militärs durch die Anweisungen des Korans zu ersetzen. Das schafft neues Misstrauen.
Dennoch: Nach diesen Prozessen, davon sind alle Kommentatoren überzeugt, wird es in der Türkei keinen Putsch mehr geben und das Militär wird sich endgültig der Politik unterordnen müssen. Das zeugt von der Tiefe des gesellschaftlichen und politischen Wandels in den letzten Jahren, meint Oral Calislar:
"Selbst wenn das Verfahren heute eingestellt oder mit Freisprüchen enden würde: Es bliebe die Tatsache, dass erstmals in unserer Geschichte ein halbes Dutzend Generäle in einem zivilen Untersuchungsgefängnis einsaßen. Schon allein deshalb haben die vergangenen zwei Jahre das Gesicht der Türkei verändert."
Auf der Anklagebank sitzen überwiegend Bürger, die am Bosporus noch vor kurzem pauschal zu den "ehrenwerten Mitgliedern" der Gesellschaft gezählt worden wären: Journalisten, Lehrer, Professoren, Beamte, Politiker und Armeeoffiziere. Es ist nicht nur ein Mammut-Verfahren. Es ist ein Vorgang, der an die Grundfesten des bislang geltenden herrschenden Systems in der Türkei rüttelt.
Die Angeklagten sollen Mitglieder eines umstürzlerischen Geheimbundes mit dem Namen "Ergenekon" sein. Die Gruppe, die sich nach der mythischen Urheimat der Türken benannt hat, soll Attentate und Anschläge geplant und durchgeführt haben. Ihr Ziel: Die Stimmung im Land so weit anzuheizen, dass die Armee einen Grund zum Putschen erhält. In der Öffentlichkeit und in den Medien sollte die derzeitige gemäßigt religiöse Regierung als verantwortlich dargestellt werden, um den Staatsstreich zu rechtfertigen. Doch der Plan wurde vereitelt, Dutzende mutmaßliche Verantwortliche in drei Verhaftungswellen seit 2007 festgesetzt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen "Bildung einer terroristischen Vereinigung". Noch nie ist in der Türkei mit solcher Härte gegen den tiefen Sumpf des extremen Nationalismus vorgegangen worden. Und vor allem wurde noch nie zuvor die bislang so allmächtige Armeeführung herausgefordert.
In der 85-jährigen Geschichte der türkischen Republik putschte sich das Militär drei Mal an die Macht - zuletzt 1980. Jedes Mal begründeten die Generäle ihr Eingreifen damit, dass sie das Land vor "inneren Feinden" retten müssten. Damit gemeint waren mal die politische Linke, mal die religiöse Rechte. Auch nachdem die Armee die Macht wieder in die Hände von gewählten Regierungen übergeben hatte, hatte sie ihre Aufpasser: Neben offiziellen Institutionen gibt es ein militärisch-bürokratisches Netzwerk, das "tiefer Staat" genannt wird und das immer wieder intervenierte, um die vermeintlich "wahren Interessen" des Landes zu schützen - wenn nötig auch mit Gewalt.
Der Ergenekon-Skandal nahm seinen Lauf durch einen Zufallsfund im März 2001: Im Zusammenhang mit einem betrügerischen Autoverkauf durchsuchten Polizisten die Istanbuler Wohnung eines Mannes namens Tuncay Güney - ein, wie sich später herausstellte - langjähriger Mitarbeiter des türkischen Geheimdienstes MIT. Dabei wurden sechs Säcke mit Beweismaterial über ein Netzwerk mit dem Namen Ergenekon sichergestellt. Der Fund wurde zunächst nicht weiter untersucht.
Viele Jahre später, im Juni 2007 erhielten die Behörden von einem anonymen Anrufer einen Hinweis auf ein Waffenversteck in einem Istanbuler Vorort. Tatsächlich befanden sich an dem beschriebenen Ort zahlreiche Handgranaten sowie Plastiksprengstoff. Bei anschließenden Hausdurchsuchungen fanden die Ermittler auf dem Computer eines pensionierten Unteroffiziers ein Dokument mit dem Titel "Ergenekon". Darin wurden Struktur und Ziele eines paramilitärischen Geheimbundes beschrieben. Das Dossier belegt, wie die Mitglieder der nationalistischen Verschwörergruppe einen gewaltsamen Umsturz der Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan planten.
Der zuständige Staatsanwalt ließ sich daraufhin noch einmal die mysteriösen Papiersäcke des Betrügers Güney bringen. Die Ermittlungen in Sachen Ergenekon nahmen ihren Lauf.
Was seitdem ans Tageslicht gebracht wurde, ist auch für den Istanbuler Publizisten Oral Calislar stellenweise unübersichtlich, voller Widersprüche und lässt unzählige Fragen unbeantwortet. Im Kern aber offenbare das Ergenekon-Verfahren Erkenntnisse, die die Türkei verändern werden:
"Das Ergenekon-Verfahren ist, wenn man so will, eine Abrechnung mit all denjenigen in der Türkei, die noch immer mit gewaltsamen Umstürzen liebäugeln. Hier steht also nicht nur eine Gruppe von Menschen vor Gericht, sondern eine politische Mentalität, mit der die Türkei viele Jahrzehnte hat leben müssen. Ich bin überzeugt, dass die Anklage und die Verhaftungen weitere politische Morde verhindert haben."
Die Anklageschrift geht davon aus, dass die Organisation über verschiedene Sektionen verfügt, die - ähnlich dem Zellenprinzip - unabhängig und ohne Kenntnis voneinander agierten. Das soll das breite Spektrum von Angeklagten - Politiker, Professoren, Offiziere, Journalisten - erklären.
Vorläufer der Gruppe waren bereits in den 1990er-Jahren aktiv gewesen. Die Killertrupps des gefürchteten Geheimdienstes der Gendarmerie, JITEM, machten damals Jagd auf Menschenrechtler und vermeintliche Sympathisanten der kurdischen Guerilla PKK. Sie nannten sich "Konter-Guerilla". Durch verdeckte Operationen und Morde sollte die PKK geschwächt werden. Ein ehemaliger Kommandeur des JITEM ist heute eine der Schlüsselfiguren in den Ergenekon-Ermittlungen.
Die Pläne zu einem Staatsstreich jedoch reiften erst nach dem Wahlsieg der gemäßigt-religiösen AK-Partei 2002. Premier Tayyip Erdogan war mit dem Versprechen angetreten, das Land für den angestrebten EU-Beitritt zu reformieren. Der Einfluss des Militärs sollte verringert, Minderheiten mehr Rechte bekommen und mit Nachbarn wie Zypern der Frieden gesucht werden.
Die bislang in der Türkei herrschende Nomenklatura aus Militär, Juristen und Istanbuler Großbürgertum fühlte sich von dieser Politik herausgefordert. Ihre staatliche Ordnung lebte bis dahin von der Existenz innerer wie äußerer Feinde. Wer das Prinzip des Laizismus in Frage stellt, wird der religiösen Reaktion angeklagt. Wer mehr Rechte für Kurden fordert, fällt unter Separatismusverdacht. Nicht Demokratie, sondern die türkische Nation und der Schutz des türkischen Staates stehen für sie im Mittelpunkt. Ihnen ist alles andere unterzuordnen. Sie geben vor, damit im Sinne des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk zu handeln.
Im Juli 2003 erkundeten die beiden Generäle Hursit Tolon und Sener Eruygur - heute Hauptangeklagte im Ergenekon-Verfahren - im Generalstab die Stimmung: Sollten wir nicht eingreifen? Die Islamisten, so klagten sie, übernähmen die Macht, verkauften das Land an die EU und das türkisch besetzte Nord-Zypern durch die Wiedervereinigungsgespräche auf der Insel gleich mit. Die Mehrheit der Kommandeure hält die Zeit aber noch nicht für reif. Die Staatsstreichpläne bleiben dennoch auf dem Tisch. Der damalige Generalstabschef Hilmi Özkök, ein Mann des Ausgleichs mit der Regierung, stellt Eruygur und Tolun zur Rede, doch die bestreiten ihre Putschgelüste. Scheinbar zufällig wird gegen Özkök in einigen Medien eine Kampagne begonnen, die ihn als zu "weich" gegenüber den Feinden der Nation hinstellt.
Der damalige Marinebefehlshaber Özden Örnek führte in jenen Wochen in einem Tagebuch penibel Protokoll über die weiteren Planungen der Gruppe. Die Aufzeichnungen wurden später in einer Zeitschrift veröffentlicht: Ihnen zufolge ging es den Beteiligten darum, die innenpolitische Situation so sehr eskalieren zu lassen, dass ein Einschreiten des Militärs zur Rettung des Landes unausweichlich erscheinen musste. Dazu mussten zunächst die Verbündeten in den Medien aktiv werden.
Die Pläne der Regierung zur Freigabe des Kopftuches an türkischen Hochschulen kam ihnen als Vorlage gerade recht: In großen Aufmachern wurde etwa in der kemalistischen Tageszeitung Cumhuriyet die Gefahr eines islamischen Gottesstaates beschworen. Mustafa Balbay, leitender Redakteur von Cumhuriyet, zählt die Staatsanwaltschaft heute zu einem der Ergenekon-Drahtzieher. Er sitzt mittlerweile in Untersuchungshaft
Nach der publizistischen Offensive schickte Ergenekon - laut Anklage - die Auftragskiller los: 2006 wird eine Handgranate in den Vorhof des Redaktionsgebäudes von Cumhuriyet geworfen. Verletzt wird niemand. Kurz darauf tödliche Schüsse auf einen Richter des Verwaltungsgerichtshofes in Ankara, der an einem Urteil gegen eine kopftuchtragende Studentin beteiligt gewesen war. Beide Einzeltäter, so wird schnell gemutmaßt, sollen von Islamisten gedungen worden sein. Die landesweite Empörung über die Anschläge ist groß, Minister der AK-Partei werden auf der Beerdigung des Richters fast gelyncht. Doch beide Attentate, davon ist die Staatsanwaltschaft mittlerweile überzeugt, gehen in Wirklichkeit auf das Konto von Ergenekon.
Es folgen Anschläge auf Angehörige christlicher Minderheiten. Die Istanbuler Tageszeitung Radikal berichtete, im Rahmen der Ergenekon-Ermittlungen sei ein Dossier der Heeresleitung für den Ägäischen Raum aufgetaucht, aus dem hervorgeht, in welchem Umfang die Aktivitäten christlicher Kirchen vom militärischen Geheimdienst erfasst wurden. In dem Dossier wird behauptet, dass insbesondere in neun Regionen die missionarischen Tätigkeiten bedrohlich zugenommen hätten. In sieben dieser neun Regionen kommt es anschließend zu zahlreichen Übergriffen auf Kirchenvertreter. Auf das deutsche Kulturzentrum "St. Paul" in Antalya wird im April 2005 ein Brandsatz geworfen. Ein Jahr später wird eine assyrische Kirche in Diyarbakir überfallen, die Gemeindemitglieder bedroht. Im Februar 2006 tödliche Schüsse auf den italienischen Priester Andrea Santoro in Trabzon. Es folgt der Mord an dem bekannten armenischen Journalisten Hrant Dink im Januar 2007. Keine drei Monate später werden drei christliche Missionare in Malatya brutal hingerichtet - unter den Opfern ist auch ein deutscher Theologe.
Auch wenn die eindeutige Zuordnung zu der Ergenekon-Gruppe noch nicht gelungen ist: Die Beteiligung oder zumindest die Duldung dieser Morde durch einzelne Polizisten, Militärs und Geheimdienstler gilt als sicher. Aufgetauchte Todeslisten belegen, dass das Morden weitergehen sollte: Darin aufgeführt sind Namen kritischer Journalisten und Angehörige der alewitischen und kurdischen Minderheit. Auch Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk soll auf der Abschussliste gestanden haben. Nicht nur säkulare und religiöse Gruppen, auch die verschiedenen Minderheiten sollten gegeneinander und gegen den Staat aufgebracht werden. Die Anklage behauptet im Besitz von Unterlagen zu sein, die belegen, dass in rund 40 türkischen Städten gewalttätige Demonstrationen geplant waren, die zu blutigem Chaos führen sollten.
Im Frühjahr 2007 fanden landesweit Großdemonstrationen gegen die angebliche islamistische Gefahr statt- auch das offensichtlich Teil der Strategie der Putschisten. Zu den Mitorganisatoren gehörten patriotische Bürgervereine, in denen Ergenekon-Symphatisanten das Sagen hatten. Hunderttausende versammelten sich im April 2007 vor dem Mausoleum von Staatsgründer Atatürk um für eine säkulare Türkei einzutreten. Das brachte den Nationalisten auch Sympathien im westlichen Ausland ein. Dass auf den Demonstrationen auch Parolen gegen die EU und christliche Missionare gerufen wurden, wurde dort meist überhört.
Schließlich zündeten die Umstürzler mit Hilfe ihrer Verbündeten im Justizapparat eine weitere Eskalationsstufe: Ein nationalistisch gesinnter Generalstaatsanwalt eröffnete ein Verbotsverfahren gegen die AK-Partei. Die Regierung sollte zum Abdanken gezwungen werden. Der Plan scheiterte: Das Verfassungsgericht lehnte den Verbotsantrag im Juli 2008 ab. Zu diesem Zeitpunkt liefen die Ermittlungen in Sachen Ergenekon bereits auf Hochtouren, etliche der Beschuldigten saßen in Untersuchungshaft. Das Netzwerk Ergenekon war am Ende.
Es gibt wohl nur noch sehr wenige, die wirklich einen Überblick darüber haben, wie viele Personen im Laufe der Ergenekon-Ermittlung bislang festgenommen wurden.
Findet die Aufarbeitung wirklich im Rahmen rechtstaatlicher Grundsätze statt, fragen viele kritische Beobachter ? Ist das Gericht in dem westtürkischen Silivri tatsächlich in der Lage ist, Anklageschrift und eingereichtes Beweismaterial sorgsam zu prüfen? Das Beweismaterial - Unterlagen, Tagebuchnotizen und Abhörprotokolle - hat immerhin einen Umfang von über 300.000 Seiten.
Darüber hinaus stützt sich die Anklage häufig auf abgehörte Telefongespräche, die in anderen Ländern vor Gericht gar nicht hätten genutzt werden dürfen. Oder sie beruft sich auf geheime Zeugen, die selbst in dem Massenprozess nicht erscheinen müssen.
Und bei aller Sympathie für diese juristische Abrechnung waren auch ausgewiesene Demokraten, die jeder Sympathie mit potenziellen Putschisten unverdächtig sind, darüber entsetzt, mit welcher Rücksichtslosigkeit die Polizei bisweilen bei ihren Razzien und Verhaftungen vorging. Auch schwer Kranke wurden im Morgengrauen abgeführt. Die Ermittler werfen das Netz sehr weit aus, und immer wieder geraten Personen in Verdacht, von denen Beobachter annehmen, sie sollen nur eingeschüchtert werden - weil es prominente Stimmen der Opposition sind.
Auch Deniz Baykal, Chef der oppositionellen Republikanischen Volkspartei, CHP, wirft der Regierung vor, sie nutze "Ergenekon" als bequeme Chiffre, um für eine säkulare Gesellschaftsordnung eintretende Gruppen mundtot zu machen:
"Wir werden nicht zulassen, dass die Türkei einem Regime der Angst zum Opfer fällt. Dass ehrenwerte Akademiker und Republikaner in diesem Land unter Druck gesetzt werden. Wir werden die wahren Hintergründe dieser Ereignisse ans Licht bringen!"
Regierungschef Tayyip Erdogan wehrt sich gegen die Vorwürfe:
"Sind denn nicht Handgranaten und Maschinengewehre in Erdlöchern gefunden worden? Wer hier ein Schreckensregime errichten will - das ist doch da für alle in den vergangenen Monaten sichtbar geworden! Hier werden keine Organisationen oder Institutionen vor Gericht gestellt, sondern Einzelne für die von ihnen begangenen Straftaten! Niemand soll glauben, er stehe in diesem Land über dem Gesetz!"
Und das Militär? Das hält sich zum Ergenekon-Komplex weitgehend bedeckt. Zu kompromittierend sind die Enthüllungen über das Treiben einiger Top-Generäle. Das Ansehen der Armee hat Schaden gelitten. Darum nimmt es der jetzige Generalstabsvorsitzenden Ilker Basbug hin, das nicht nur ehemalige, sondern auch aktive Offiziere in der Türkei neuerdings vor einem zivilen Gericht angeklagt werden können. Das wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen.
Dass sich Basbug zu den Verhaftungen etlicher seiner Kameraden nicht äußert, mag - so eine Vermutung - auch daran liegen, dass sie ihm nicht ungelegen kommen. Denn der Viersternegeneral zählt selbst zur europafreundlichen Fraktion in der Armeeführung. Ihr gegenüber stehen die "Eurasier" - Offiziere, die statt mit Europa und den USA lieber ein stärkeres Bündnis mit Russland anstreben. Dieser Gruppe entstammen auch die angeklagten Putschisten.
Die einen betrachten das Ganze als Hexenjagd, die anderen als überfällige Aufarbeitung der Vergangenheit. Letztere sagen, dass es zur Festigung von Demokratie und Rechtstaatlichkeit erforderlich ist, Personen zur Rechenschaft zu ziehen, die sich in der Vergangenheit als immun und dem Recht nicht unterworfen betrachtet haben. Auch der Publizist Oral Calislar meint, der Ergenekon-Prozess könnte in der Türkei eine Wende hin zu einer Zivilgesellschaft einleiten:
"Der Putsch von 1980 hat das politische System der Türkei militarisiert. Seitdem steht das Parlament unter der Herrschaft des Militärs. Aber durch die Demokratisierung und die Annäherung an die EU geriet deren Rolle in den vergangenen Jahren ins Wanken. Die Forderung, dass die Armee sich wie in anderen Ländern auch nicht länger in die Politik einmischen sollte wurde immer lauter."
Umfragen zeigen, dass rund 60 Prozent der Türken von der Existenz des Ergenekon-Netzwerkes überzeugt sind und das Gerichtsverfahren befürworten. Viele liberale Demokraten hätten sich gewünscht, dass die zivile Gesellschaft der Türkei gegen die Vormundschaft des Militärs auf begehrt hätte, und nicht eine religiös geprägte Partei, die immer im Verdacht steht, die Vormundschaft des Militärs durch die Anweisungen des Korans zu ersetzen. Das schafft neues Misstrauen.
Dennoch: Nach diesen Prozessen, davon sind alle Kommentatoren überzeugt, wird es in der Türkei keinen Putsch mehr geben und das Militär wird sich endgültig der Politik unterordnen müssen. Das zeugt von der Tiefe des gesellschaftlichen und politischen Wandels in den letzten Jahren, meint Oral Calislar:
"Selbst wenn das Verfahren heute eingestellt oder mit Freisprüchen enden würde: Es bliebe die Tatsache, dass erstmals in unserer Geschichte ein halbes Dutzend Generäle in einem zivilen Untersuchungsgefängnis einsaßen. Schon allein deshalb haben die vergangenen zwei Jahre das Gesicht der Türkei verändert."