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Geheimnis der Sprache

Ihren Zeitgenossen hat sie sich als "Tino von Bagdad" und "Prinz Jussuf von Theben" vorgestellt und unter solchen Maskeraden die literarische Moderne von der Jahrhundertwende bis in die Weimarer Republik wesentlich mitgeformt; 1933 musste die in Wuppertal geborene und in Berlin lebende Schriftstellerin Deutschland verlassen, nachdem sie auf offener Strasse tätlich angegriffen wurde; Anfang 1945, kurz vor Kriegsende, starb sie – in Deutschland vergessen – im "Hebräerland" Palästina. Heute aber zählt sie, die deutsch-jüdische Lyrikerin, Dramatikerin und Romanautorin Else Lasker-Schüler, zu den Klassikern der Moderne.

Andreas Kilcher | 07.11.2003
    Eines ihrer charakteristischsten Markenzeichen waren ihre Briefe, die nun in einer neuen, kritischen Ausgabe ediert werden; der erste von sechs Bänden liegt nun vor. Die Fruchtbarkeit dieses editorischen Unternehmens zeigt sich schon daran, dass von den insgesamt 638 Briefen und Postkarten dieses ersten Briefbandes über die Hälfte Erstveröffentlichungen sind. Dies ist zweifellos ein großer editorischer Erfolg der Herausgeber, die über lange Jahre und nicht nur in öffentlichen Bibliotheken und Archiven wie der Hebräischen Nationalbibliothek, dem New Yorker Leo Baeck Institute, dem Marbacher Literaturarchiv oder der Stadtbibliothek Wuppertal, sondern auch in Privatbesitz in der Schweiz, in Frankreich und Deutschland nach Briefen nachgeforscht haben, wobei von dem umfangreichen neugefundenen Material der passionierten Briefschreiberin kaum restlos alles ediert werden konnte. Professionell ist diese Ausgabe auch in den Anmerkungen, die über Datierung, Überlieferung und historische Kontexte Auskunft geben und mehr als die Hälfte des Bandes umfassen.

    Dieser erste Briefband dokumentiert den Weg der Wuppertaler Bankierstochter aus der bürgerlichen in die künstlerische Existenz. Er zeigt, wie die junge Else Lasker-Schüler nach abgebrochener Schule und mit ihrem ersten Ehemann Jonathan Lasker 1894 nach Berlin geht, unter anderem bei Simson Goldberg ihr Talent als Zeichnerin ausbildet, sich dann mit dem Bohèmedichter Peter Hille verbindet und zunehmend in die Künstlerszene Eingang findet, um die Jahrhundertwende ihre ersten Gedichte publiziert und sich damit zunächst vor allem als Lyrikerin etabliert – nach Gottfried Benns späterem Urteil ist sie "die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte" –, sich mit Herwarth Walden verheiratet und 1912 nach einer Skandinavien-Reise schmerzlich wieder von ihm trennt. Unter den Adressaten dieser frühen Jahre finden sich neben Else Lasker-Schülers Familie und ihren Verlegern Axel Juncker, Heinrich Bachmair und Kurt Wolff vor allem Künstlerfreunde wie Karl Kraus, Paul Zech, Franz Marc und Karl Wolfskehl.

    Die Geburt der Dichterin zeigt sich symptomatisch an der Erfindung des literarischen alter ego "Tino", mit dem Else Lasker-Schüler seit Herbst 1900 ihre Briefe unterschrieb. Peter Hille hatte ihr diesen Namen gegeben, den sie als literarische Ich-Figuration übernahm und – das ist bezeichnend – eben nicht nur in literarischen Texten wie im Peter Hille-Buch (1905) und in Die Nächte Tino von Bagdads (1907) verwendete, sondern auch ihre Briefe mit dem Namen "Tino" unterschrieb. Damit verschmilzt bei ihr die übliche Grenze von Fiktion und Realität in einer imaginären Figuration: der orientalischen "Prinzessin" Tino. Dem folgte 1910 der "Prinz Jussuf von Theben", ihre wichtigste, nunmehr biblisch motivierte Ich-Figuration. In zwei Briefen an den Kunsthistoriker Eduard Plietzsch vom November 1910 erklärt sie diese Figur als exilierten Traumdeuter und Schreiber, oder genauer und bezeichnenderweise – als einen Schreiber von Briefen:

    Wenn ich an Sie schreiben werde so werden es dieselben Briefe sein, die Jussuf von Egypten Pharao schrieb mit dem Griffel auf Stein. […] Sie sind ein deutscher Prinz und König und ich bin aus Cana, Jakobs Sohn und trage den lammblutenden Rock. […] Sie sind mir einmal schon in meiner Bibelzeit begegnet und Träume habe ich gedeutet, Ihre Träume […]. Und du glaubst mir noch immer nicht, süßer König, dass ich Joseph der Egypter bin. Ich trug am Abend, als du in den Vorhof tratst, nicht meinen bunten Rock. Ich werde ihn aber anlegen wenn du heimkehrst – und wenn dir mein Bild gefällt dann magst du es behalten. Ich flöte die Heerde zusammen. Ich sende es dir nicht, weil es mein Bild ist, das wäre ja aufdringlich, ich beweise nur mit ihm, dass ich es bin und dass ich verkauft bin wie Joseph und dass ich Träume deute, dass ich liebe wie Joseph in Egypten.

    In dem Moment, wo die Mystifikation in den Brief eindringt, wird er selbst zur literarischen Gattung.
    Else Lasker-Schüler hat dies auch in dem halb-fiktionalen Briefroman Mein Herz (1912) durchgespielt und dabei den Transfer des Briefes in die Literatur endgültig vollzogen. Diese Briefe – ediert im Band 3 der vorliegenden Werkausgabe – publizierte sie bereits 1911 und 1912 in der von Walden redigierten Zeitschrift Der Sturm als Briefe nach Norwegen , die Buchausgabe wurde lediglich um 20 Zeichnungen der Autorin ergänzt. Lasker-Schüler thematisiert hier zum einen ihre Trennung von Walden, zum anderen das Leben der Berliner Bohème, die sich vorwiegend im Café des Westens traf. Sie tat dies aber eben so, dass sie das reale Geschehen und die realen Personen in einen imaginären Raum verlegte.

    Die Adressaten werden zur "Renntieren" oder "sehr edlen Gesandten", sich selbst tituliert sie als "Dichterin von Arabien, Prinzessin von Bagdad, Enkelin des Scheiks, ehemaliger Jussuf von Ägypten, Deuter der Ähren, Kornweser und Liebling Pharaos". "Spielen ist alles", erklärt sie dieses poetologische Verfahren des Briefschreibens 1911 in einem Brief an Karl Kraus, den sie wiederum abwechselnd als "Herzog von Wien", "Dalai Lama" und "Cardinal" tituliert. Nicht anders als die literarischen Texte erweisen sich die Briefe damit als Formen einer literarischen und artistischen Existenz, die Else Lasker-Schüler so auf den Punkt brachte: "Ich sterbe am Leben und atme im Bild wieder auf". Die Briefe sind voll solcher literarischen Bilder, wie auch diejenigen an Karl Wolfskehl zeigen können. Ihre Briefe an den in München lebenden Georgianer, von ihr als "Ramsenith" tituliert, sind ganz in einen mythischen asiatischen Raum und in eine entsprechende Sprache verlegt. So schreibt sie im Juni 1911 an Wolfskehl:

    Ramsenith, lieber König, was soll ich dir sagen! In Theben würde die lila Dolde: Anadïr heißen; die rosa Blumen: Almu eijadina binasrë, süße Tänzerinnen. Ich werde gar nicht mehr in die Gärten gehen, immer zwischen deinen Rosensüßen nach dir aussehn. Was soll ich dir schenken – da meine Paläste versanken, meine Dromedarheerden verhungerten; meinen Tauben stach man die Corallen aus. Was soll ich die schenken, lieber König Ramsenith?

    Wenn man in dieser Briefausgabe etwas vermissen wird, dann sind es allerdings die zahlreichen Zeichnungen, mit denen Else Lasker-Schüler nicht nur den Ende 1912 einsetzenden Briefwechsel mit Franz Marc – ihrem "lieben, lieben, lieben, lieben blauen Reiter" – bereicherte. Zahlreiche Briefe enthalten kleinere und größere Zeichnungen, keine einzige aber findet sich in der Briefausgabe. Als unbefriedigender Ersatz werden lediglich knappe Beschreibungen der Zeichnungen geboten, die den Text auf unangenehme Weise unterbrechen, wo man doch im Zeitalter des Computersatzes leicht eingescannte Bilder in den Text hätte einbauen können. Dieser Mangel wiegt nicht zuletzt deshalb recht schwer, weil sich gerade Lasker-Schülers Schreiben in einem Zwischenbereich von Text und Bild, von Literatur und Kunst bewegte, wie nicht zuletzt auch die jüngst im Jüdischen Verlag erschienene Faksimilierung des Gedichtbandes Theben zeigen kann. Nichtsdestoweniger wird man mit Neugier und Vorfreude auf die folgenden fünf Briefbände warten.