Blut ist eines der Elemente, das Nuruddin Farah immer wieder aufgreift, nicht nur in diesem Buch. Ein anderes ist Sexualität in vielen Facetten und ungeachtet aller Tabus: Sexualität zwischen Kindern, Homosexualität, Vergewaltigung, Inzest, Sodomie. Für den Leser, dem die somalische Kultur völlig fremd ist, ist es kein einfaches aber ein durchaus lohnendes Abenteuer, Nuruddin Farahs vielschichtigen Erzählsträngen, den üppigen Bildern und oft rätselhaften Gleichnissen zu folgen. Dazu der Autor:
"Ich glaube, man kann den Roman auch ganz unabhängig von der somalischen Realität die darin aufscheint lesen. Es ist sicher schwierig in dem Sinne, daß man sich auf die Bilder und Geschichten einlassen muß. Nuruddin Farah hat sich immer wieder heftig auch mit psychoanalytischen Fragestellungen beschäftigt, er hat sich lx quer durch die neuere europäische Geistesgeschichte gefressen u ich glaube diese Sachen rühren eher an Urvorstellungen. Das Wort Mythos ist schon richtig, der Mythos von Beziehungen zwischen Söhnen und Vätern, zwischen Frauen und Männern, das gibt's ja in der ganzen abendländischen Geistesgeschichte, eine Reihe von Konstellationen archetypischer Natur könnte man sagen und das ist in afrikanischen Gesellschaften ähnlich."
So Peter Ripkerl von der Gesellschaft zur Förderung der Literatur Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. "Geheimnisse" ist nach "Maps" und "Gifts" der Abschluß einer Trilogie. In "Maps" geht es um Landkarten der Seele ebenso wie um physische Landkarten, umkämpfte Territorien. "Gifts" dreht sich um menschliche Beziehungen, die mit Geschenken und Zuwendungen zu tun haben und reflektiert auch die Problematik der sogenannten Gaben der Entwicklungshilfe. Dieser Roman ist als einziger Teil der Trilogie nicht ins Deutsche übersetzt worden. "Secrets" - "Geheimnisse" ist zeitlich angesiedelt in den Tagen unmittelbar vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs zwischen rivalisierenden Clans. Der wirft bedrohliche Schatten voraus, ist unterschwellig allgegenwärtig, obwohl Farah die beginnenden Kämpfe eher in Nebensätzen streift.
"Ich schreibe über mein Land, um es lebendig zu erhalten" - das betont der Autor immer wieder. Und so spielen alle seine Romane in Somalia, obwohl er seit mehr als 25 Jahren im Exil lebt und nur 1996 für kurze Zeit dorthjn reisen konnte. Nuruddin Farah:
"Es hat mein Verständnis für Somalia noch geschärft. Die übrige Welt wurde gewissermaßen die Tür, durch die ich Somalia betreten konnte. Ich begann, in der Welt meiner Vorstellungen zu leben - das war mein Land. Und daher war es nicht wirklich von Bedeutung, wo ich lebte. Ich hatte diesen Paß, den Paß meiner Vorstellungen und Phantasien. Und so lebte ich im Land meiner Vorstellungen und schrieb darüber und ich glaube sogar, daß das die beste Art ist, über ein Land zu schreiben. Denn wenn Sie hier auf diesem Teppich stehen, dann können Sie den Fleck, auf dem Sie stehen, erst dann wirklich sehen, wenn Sie sich ein Stück davon weg bewegt haben."
"Geheimnisse" schildert die Auseinandersetzung von Kalaman mit der Welt seiner Vorfahren, die Suche nach einer wahren Identität. Der Roman enthüllt aber nicht nur eine Familiengeschichte, man kann ihn zugleich lesen als eine Parabel über die Notwendigkeit einer Gesellschaft, sich mit ihrer Vergangenheit zu konfrontieren. Kalaman symbolisiert Somalia - oder auch jedes andere Land. Er weiß nichts - jedenfalls nicht das Wesentliche - über seine eigene Geschichte. Im kollektiven Unterbewußtsein jedoch ist sie allgegenwärtig und wird von Sholoongo allen Widerständen zum Trotz ans Licht gezerrtiaber einmal bewußt wahrgenommen und als Teil der eigenen Realität akzeptiea, verlieren auch die Schattenseiten das unerhört Bedrohliche. So heisst es im Text:
"Ich frage: "Sholoongo? Was ist mit ihr?" Seine Zunge zittert, dessen bin ich mir sicher, nimmt das Entsetzen darüber vorweg, was zwischen Sholoongo und ihm vorgefallen ist. Für mich ist sie eine Frau, die jeden von uns dazu gebracht hat, die Bedeutung der Wahrheit zu erforschen, auch dazu, wie wir unser Ergebnis von anderen Kategorien der Wahrheit unterscheiden sollen. Für mich ist sie die Schamanin, die nicht gekommen ist, um zu heilen, sondern um uns unseren geheimen bösen Willen zu nehmen."
Wie die meisten afrikanischen Schriftsteller, so steht auch Nuruddin Farah vor dem Problem des Umgangs mit der oralen Tradition seiner Herkunftskultur. Eine Tradition, die aufgehoben ist in Legenden, Poesie, bildhaften Geschichten, die sich auch heute noch im Somali der Alltagssprache wiederfinden. Farah schreibt auf englisch und zumeist gelingt es ihm, diese Bilderwelten in seinen Text einzuflechten. An manchen Stellen jedoch verliert er das rechte Maß. Da überschlagen sich die Metaphern, die Sprache wirkt aufgesetzt, ungewollt künstlich. Weniger wäre dann mehr. Manchmal könnte man meinen, daß auch das mit dem Anliegen des Buches zusammenhängt. Daß die zuweilen überzeichneten, regelrecht aufdringlichen Bilder mehr verdecken wollen, irritieren, den Leser auf die falsche Fährten lenken. Denn schließlich geht es ja um Geheimnisse.