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Geheimnisse und Post-Privacy

Eine der wichtigsten Vokabeln unserer Zeit heißt: Öffentlichkeit. Um Öffentlichkeit dreht sich alles, das öffentliche Leben ist der Maßstab unserer Existenz geworden. Während die Öffentlichkeit in den letzten 50 Jahren einen diskursiven Heiligenschein bekam, geriet ihr Gegenteil, die Privatheit, immer mehr in Verruf.

Von Burkhard Müller-Ullrich |
    Der Privatmensch in seiner gesellschaftsabgewandten Individualität wurde als apolitisch, wenn nicht sogar asozial gebrandmarkt, jedenfalls als unmodern und rückschrittlich.

    Dennoch wächst mit den Anforderungen der Öffentlichkeit auch das Bedürfnis nach Privatheit, und in dem Maße, wie unser Dasein in sozialen Netzwerken einsehbar und durch elektronische Kommunikationsmittel ausforschbar wird, verteidigen wir unsere sogenannte Intimsphäre. Aber warum? Weshalb sind sogar Prominente darauf bedacht, ein paar Dinge in ihrem Privatleben aus dem Scheinwerferlicht der Medien herauszuhalten? Oder anders gefragt: Wieso hat und pflegt jeder Mensch seine Geheimnisse?

    Der antike griechische Philosoph Epikur lehrte bereits, dass man gut daran tut, im Aufmerksamkeitsschatten der Mitwelt zu bleiben. "Lathe biosas", lautete seine Devise – lebe im Verborgenen! Wenn aber Unauffälligkeit eine Vorbedingung für Glückseligkeit ist, dann braucht man Techniken der Tarnung. Hierin besteht die Funktion des Geheimnisses: Es dient der Unkenntlichmachung und dem Verstecken dessen, was einem besonders lieb und teuer ist. Und weil das jeder weiß, gilt es auch in umgekehrter Richtung: Das Geheime erregt besonders viel Interesse, weil große Geheimhaltung schon ein Hinweis auf große Bedeutung ist.

    Von Epikur bis heute hat sich die Glückseligkeit des Lebens im Verborgenen natürlich immer wieder neu und anders ausgeprägt. Mal ging es darum, die Götter nicht durch Hybris zu reizen, mal stand mehr die Angst vor Neid und Mißgunst der Zeitgenossen im Vordergrund. Und für jedermann gibt es gute Gründe, sich allzu strenger staatlicher Kontrolle zu entziehen – nicht bloß unter totalitären Verhältnissen. In all diesen Fällen entsteht eine Kultur des Geheimnisses; ihr Zweck liegt darin, die Autonomie des Individuums zu sichern und gegen Machtansprüche von außen zu verteidigen.

    Zum Beispiel rät jede Lottogesellschaft ihren Großgewinnern dringend, im akuten Freudentaumel keine Presseinterviews zu geben und überhaupt, so gut es geht, Stillschweigen über das Glück plötzlichen Reichtums zu bewahren, um keine Räuber, Diebe und Schmarotzer anzulocken. Ein Rechtsstaat kennt und schützt das Bankgeheimnis und das Steuergeheimnis, weil Geldangelegenheiten stets ein enormes Potenzial sozialen Unfriedens enthalten. Die ärztliche Schweigepflicht soll verhindern, dass jemand aus dem Wissen über den körperlichen Zustand anderer Menschen Macht über diese gewinnt. Und gäbe es kein Wahlgeheimnis, würde die Demokratie zum Spielball des dann von allen Seiten ausgeübten sozialen Drucks und entsprechender Drohungen.

    Das Geheimnis wirkt also gewissermaßen als Schutzschicht, die das Individuum gegen Ein- und Übergriffe der Öffentlichkeit isoliert. Das Geheimnis existiert aber gar nicht als solches, sondern es ist bloß das Ergebnis einer Kommunikationsstrategie. Alles kann zum Geheimnis werden. Es genügt, etwas geheim zu halten oder für geheim zu erklären, schon entsteht ein Geheimnis, so wie der Stempelaufdruck "Geheim" jede Akte zur Verschlusssache macht.

    Weil das so leicht geht, lässt sich daraus eine Art Lustgewinn ziehen, der die eigentliche Attraktivität von Geheimnissen ausmacht. Es ist ja offensichtlich: Geheimnisse zu haben, gehört zu den Grundeigenschaften des Menschen. Sämtliche Sozialbeziehungen strukturieren sich nach Abstufungen des Vertrauens, und Vertrauen ist nichts anderes als das Teilen von Geheimnissen.

    Gewiß, die Entwicklung der Informationstechnologie führt zu einem Strukturwandel der Nichtöffentlichkeit. Schon ist vom kommenden Zeitalter der Post-Privacy die Rede. Aber um anthropologische Tatsachen außer Kraft zu setzen, braucht es mehr als einen modischen Begriff.