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Geheimnisvolle Embryonen

Paläontologie. - Erst ist noch nicht einmal zehn Jahre her, dass in Hunderte von Millionen Jahre alten Gesteinen fossile Embryonen entdeckt worden sind. Seitdem hat die Embryologie als neues Forschungsgebiet in die Paläontologie Einzug gehalten. Allerdings sind diese Embryonen mit bloßem Auge kaum zu erkennen, so dass die Geologen bislang nur davon träumen konnten, diese feinen Strukturen genau zu untersuchen. Das ist jetzt mit Synchrotronstrahlung gelungen - und was die Forscher mit ihrem "Supermikroskop" entdeckt haben, stellt alte Lehrsätze auf den Prüfstand.

Von Dagmar Röhrlich |
    Je kleiner die Untersuchungsobjekte sind, desto aufwendiger wird die Forschung. Das gilt auch für die 530 Millionen Jahre alte Embryonen aus China und Sibirien. Allein schon die Dimensionen der Gesteinsaufbereitung sind gewaltig: Die Paläontologen mussten zwölf Tonnen Kalkstein vorsichtig auflösen, um daraus 500 winzige Embryonen zu fischen, die allesamt kleiner sind als ein halber Millimeter. Die Ausbeute wurde dann zum Paul-Scherrer-Institut bei Zürich geschafft, erzählt Phil Donoghue von der University of Bristol:

    "”Unsere Untersuchungen sind ein bisschen wie ein medizinischer Computertomographie-Scan. Weil wir Stein durchdringen müssen, arbeiten wir nicht mit einem normalen Röntgengerät, sondern mit der Synchrotronstrahlung, die der Teilchenbeschleuniger am Paul-Scherrer-Institut erzeugt. So können wir Strukturen erkennen, die kleiner als ein Tausendstel Millimeter sind.""

    Jeder Scan dauert etwa anderthalb Stunden. Dann verraten die winzigen Fossilien ihre Geheimnisse. Donoghue:

    "”Die Fossilien, die wir untersuchen, sind winzige Embryonen von Meeresbewohnern, die aus einer Zeit stammen, als erstmals alle wichtigen Tiergruppen auftauchen. Das Repertoire reicht von Fossilien aus den frühesten Entwicklungsstadien, wenn sich die befruchtete Zelle gerade zum ersten Mal teilt, bis hin zu Embryonen, die kurz vor dem Schlüpfen standen.""

    Dass diese Embryonen überhaupt überliefert worden sind, grenzt an ein Wunder. Normalerweise zerfallen so feine Strukturen nach dem Absterben innerhalb von Stunden. Donoghue:

    "”Die meisten dieser Embryonen wurden wahrscheinlich von ihren Müttern im Sediment vergraben. Es war ein flaches Meer, in dem die Tiere über den Sand krabbelten, aber schon wenige Millimeter bis Zentimeter unter der Oberfläche wurde der Sauerstoff knapp und es gab sehr viel giftigen Schwefelwasserstoff.""

    Der die Embryonen abtötete. Ohne Sauerstoff konnten die Mikroben ihr Zersetzungswerk nicht leisten, und so verwesten die Embryonen nicht. Später ersetzte dann das Mineral Calciumphosphat, aus dem auch unsere Zähne bestehen, das organische Gewebe der Embryonen. Donoghue:

    "”Viele der Embryonen gehören zu heute noch lebenden Gruppen, zum Beispiel denen der Priapswürmer, das sind wurmförmige Tiere mit einem verdickten, rüsselartigen Kopf, die allesamt auf dem Meeresboden leben und die ihres Aussehens wegen auch Penis-Würmer genannt werden. Durch unsere Untersuchungen können wir erstmals Rückschlüsse darauf ziehen, wie sich im Lauf der Evolution die Embryonalstadien entwickelt haben.""

    Da gibt es anscheinend wichtige Unterschiede: Während die heute lebenden Priapswürmer nach dem Schlüpfen zunächst mehrere Monate oder Jahre als Larve leben, bevor sie sich in den erwachsenen Wurm verwandeln, habe ihre Ahnen vor 530 Millionen Jahren den direkten Weg eingeschlagen. Donoghue:

    "Diese Embryonen sehen aus wie die erwachsenen Tiere ihrer heute lebenden Nachfahren. Sie haben anscheinend kein Larvenstadium durchlaufen. Das legt nahe, dass sich das Larvenstadium im Lauf der Evolution erst später entwickelt hat. Dabei haben wir seit dem 19. Jahrhundert angenommen, dass die frühen Tiere so aussahen wie Larven, und dass sich diese Stufe als Larvenstadium in den Entwicklung von Tieren bis heute hin gehalten hat."

    Nach der klassischen Hypothese ist das Larvenstadium bei den Meerestieren also ein ganz altes Merkmal. Jetzt scheint es genau anders herum zu sein. Aber dann muss sich dieses Stadium in den vielen verschiedenen Linien von Meerestieren, die es heute einsetzen, ganz unabhängig voneinander entwickelt haben - ähnlich wie das Gehirn oder wie viel später die Flügel.