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Geheimsache: Pillentest

Jeder Patient, der ein Medikament einnimmt, und jeder Arzt, der ein Medikament verschreibt, muss sich auf eines verlassen können: dass es wirkt. Denn schließlich hat es vor der Zulassung in Klinischen Studien ihre Wirkung unter Beweis stellen müssen – an Hunderten oder gar Tausenden von Freiwilligen. Doch kritische Forscher haben in jüngster Zeit aufgedeckt: Der Schein trügt. Denn die Macher Klinischer Studien manipulieren auf vielfältige Weise die Ergebnisse der Medikamententests.

Von Thomas Liesen | 03.06.2012
    Mitte 2009. Mehrere Monaten des Jahres dominiert ein Thema die Nachrichten.

    "Also ich war total unsicher, hatte Angst und dachte auch: Wir sterben alle an der Schweinegrippe."

    Schulen machen dicht, Eltern verunsichert.

    "Dann ist Versorgung auf der Intensivstation erforderlich über längere Zeit, Beatmungsgerät und da sterben halt auch junge Leute."

    Schweinegrippe – Epidemie der Angst.

    Es war eine der Glanzstunden von Roche, Hersteller eines Mittels namens Tamiflu.

    Unter allen schlechten Nachrichten über die Schweinegrippe gibt es auch eine gute: Das gängige Grippemittel Tamiflu scheint auch gegen diesen Erreger der Schweinegrippe zu wirken: gegen das neuartige Influenzavirus vom Typ H1N1,

    berichtet die Süddeutsche Zeitung am 27. April 2009. Und weiter:

    Der nationale Pandemieplan für Deutschland sieht vor, dass jedes Bundesland im Notfall 20 Prozent der Bevölkerung mit dem Wirkstoff versorgen können muss.

    "Ich würde sagen: Tamiflu war nicht ein Skandal, es ist ein Skandal."

    Tamiflu, das Mittel gegen die Angstseuchen Schweinegrippe, Vogelgrippe und auch gegen die ganz normale Grippe. Im Anfangsstadium der Infektion eingenommen, verhindert Tamiflu einen schweren Verlauf. Hieß es. Es wirkt sogar vorbeugend, verringert also deutlich die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung. Und das alles ohne schwere Nebenwirkungen. Pressemitteilung Roche Deutschland, 16.Oktober 2009:

    Aus diesem Grund haben einige Bundesländer ihre Tamiflu-Vorräte im Rahmen der Neuen Grippe aufgestockt. Diese Landesvorräte werden durch einen Notvorrat der Bundesregierung auf 30 Prozent Abdeckung der Bevölkerung ergänzt.

    Nicht nur in Deutschland, weltweit lagern die Gesundheitsbehörden Tamiflu ein. Mehrere Milliarden Euro fließen in die Kasse von Roche. So ein Mittel wünscht sich jeder Pharmakonzern. Doch dann der Rückschlag im Dezember 2011. Die Cochrane-Collaboration, ein weltweit anerkannter wissenschaftlicher Dienst, der Arzneimittel und Therapien überprüft, legt ihre neueste Auswertung zu Tamiflu vor. Die Quintessenz: Das Grippemittel sei weniger wirksam als bisher angenommen. Es schütze auch nicht vor Ansteckung. Und Cochrane berichtet von bisher unbekannten, schweren Nebenwirkungen: Tamiflu könne neurologische und psychische Probleme auslösen. Cochrane hatte erstmals Zugang zu bisher geheimen Daten. Genauer: Berichte und Protokolle von Medikamententests, die der Hersteller Roche bisher nie veröffentlicht hatte, die aber der europäischen Zulassungsbehörde EMA vorlagen.

    "Alles, was wir heute sehen, beruht auf Daten, die nicht publiziert sind. Wir wissen schon aufgrund der Daten von den Zulassungsbehörden, dass über 60 Prozent der in den Studien behandelten Patienten nicht in Studien publiziert worden sind."

    Und genau das ist für Gerd Antes, Mathematiker, Statistiker und Mitarbeiter von Cochrane, der Skandal. Das Prinzip, das Roche bei Tamiflu offensichtlich praktiziert, sei das Publizieren nach Gutdünken: Ergebnisse aus Medikamentenstudien, die das Mittel gut aussehen lassen, werden öffentlich gemacht. Studienergebnisse, die gegen das Medikament sprechen, bleiben in der Schublade. Und zwar regelmäßig.

    "Wenn man sich mit dem Thema beschäftigt, kennt man die Dimensionen. Man weiß, dass in vielen Bereichen der Medizin bis zu 50 Prozent der klinischen Studien nicht zu einem vernünftigen Zeitpunkt nach der Zulassung veröffentlicht werden."

    Professor Wolf-Dieter Ludwig, Onkologe und Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Die Folgen für die Einschätzung von Medikamenten sei gravierend, glaubt er. Antes:

    "Der Gesamteffekt ist ein Überoptimismus, weil natürlich jeder das in die Richtung schönt, die er gerne hätte, dass man heute ausgeht von einer Überschätzung von Wirksamkeit auf der einen Seite, auf der anderen Seite eine genau so grobe Unterschätzung der potentiellen Gefährdung, also unerwünschte Nebenwirkungen."

    All das hat mittlerweile einen eigenen Fachausdruck bekommen: Publikations-Bias. Bias kommt aus dem Englischen und bedeutet so viel wie Verzerrung. Verzerrung durch Einseitigkeit, durch Voreingenommenheit. Kurz: die rosarote Brille der Pharmaforscher. Doch welche Folgen hat diese Schönfärberei? Für Ärzte, für Patienten? Und was geschieht, um dieser Manipulation Einhalt zu gebieten?

    Auf dem Weg in die Höhen des Köln-Turms. In das höchste Gebäude der Domstadt ist erst vor kurzem das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen eingezogen. Das oft auch als Pharma-TÜV bezeichnete Institut ist auf Expansionskurs. Die alten Kölner Räumlichkeiten, in denen man seit 2004 residierte, wurden zu eng. Denn angesichts von rund 2500 Medikamenten, die jährlich neu auf den Markt kommen, wachsen Bedeutung und Mitarbeiterzahl unabhängiger Institutionen. Ähnlich wie die Cochrane-Collaboration oder die Arzneimittelkommission prüft auch das Kölner Institut Arzneien oder medizinische Verfahren auf ihren wahren Nutzen. Nicht durch eigene Pharmatests, sondern durch Recherche in der internationalen Fachliteratur.

    "Ich habe jetzt hier die Internet-Seit von clinicaltrials.gov aufgerufen. Das ist die Datenbank in den USA. Da kann ich jetzt hier auf die Suche nach klinischen Studien klicken und einen Suchterm eingeben."

    Dr. Beate Wieseler ist Arzneiprüferin. Ob ein Medikament so wirkt wie versprochen, das liest sie aus den Ergebnissen Klinischer Studien. Diese Medikamententests laufen in der Regel unter Regie des Herstellers. Denn der ist verpflichtet, seine Mittel an Hunderten oder Tausenden von freiwilligen Patienten vor Markteinführung erst einmal zu testen. In einer Testreihe wird das Medikament zum Beispiel an gesunden Patienten getestet, in einer anderen an bereits erkrankten; in einem Test wird das Medikament nur kurz eingenommen, im anderen über mehrere Jahre. Die Wirksamkeit, aber auch die Schwere der Nebenwirkungen kann je nach Testreihe dabei ganz unterschiedlich ausfallen. Beate Wieseler sucht nun exakt nach den Daten aus solchen Untersuchungen. Zur Zeit erstellt sie ein Gutachten über ein Rheumamittel namens Etanazept.

    "Wenn ich das jetzt mal eingebe, dann sehen wir, dass 286 Studien mit Etanazept aufgelistet sind. Wir sehen jetzt noch, dass das Studien in den unterschiedlichsten Anwendungsgebieten sind. Parallel suchen wir in Literaturdatenbanken, ob es Zeitschriftenpublikationen gibt zu dem Präparat, das wir bewerten, parallel schreiben wir die Hersteller an und bitten um Übermittlung der Unterlagen zu diesen Studien, wir schauen parallel auf die Internetseiten der Zulassungsbehörden und gleichen all diese Informationen ab."

    Schwierig wird es allerdings, wenn der Hersteller Daten geheim hält. Dann hilft manchmal nur der Zufall oder eine Art detektivischer Spürsinn. Wie zum Beispiel bei Reboxetin, einem Antidepressivum. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit, auch kurz Iqwig genannt, überprüfte 2009, wie gut das Mittel tatsächlich wirkt. Und Beate Wieseler stieß dabei auf Ungereimtheiten.

    "Das waren Hinweise, dass jemand auf einem Kongress über eine Studie gesprochen hat, über die wir dann keine Vollpublikation gefunden haben, das waren Erwähnungen in anderen Publikationen, die nahelegten, dass es eben weitere Studien gab."

    Das Iqwig schrieb daraufhin den Hersteller Pfizer an und bat, die fehlenden Daten herauszugeben. Pfizer weigerte sich. Das Iqwig ging an die Öffentlichkeit, Pfizer beugte sich schließlich dem wachsenden Druck. Wieseler:

    "Wir haben in einem ganz aufwendigen Verfahren diese unpublizierten Daten im Endeffekt bekommen und haben dann gesehen, dass – wenn wir alle Daten betrachten – wir ein vollkommen anderes Bild dieses Medikaments haben, als wenn wir nur die publizierten Daten betrachten. Die publizierten Daten haben dieses Medikament als wirksam gezeigt, wenn wir dagegen alle Daten uns angeschaut haben, war ein Nutzen dieses Medikaments nicht mehr nachweisbar."

    Pfizer hatte sein Antidepressivum an insgesamt 4600 Patienten getestet, aber nur die Daten von 1600 Patienten veröffentlicht. Durch dieses selektive Weglassen von rund zwei Dritteln stieg rein rechnerisch die Wirksamkeit von Reboxetin gegenüber einem Placebo um 112 Prozent. Und es gibt viele weitere Beispiele für den fragwürdigen Umgang mit Studiendaten. So berichtete im Jahre 2008 das renommierte Fachmagazin "New England Journal of Medicine" über selektives Publizieren bei gleich zwölf gängigen und modernen Antidepressiva. Die Autoren des Artikels hatten über die amerikanische Zulassungsbehörde FDA Zugang zu Herstellerstudien bekommen, die bisher unpubliziert geblieben waren. Sie verglichen anschließend die Ergebnisse der veröffentlichten und der unveröffentlichten Firmenstudien. Ihr Ergebnis fassen sie nüchtern so zusammen:

    Betrachtet man die veröffentlichte Literatur, so sind die Ergebnisse fast aller Klinischen Studien zu den Antidepressiva positiv. Im Gegensatz dazu zeigt diese Analyse, dass nur etwa die Hälfte der Klinischen Studien positive Ergebnisse zeigten.

    In genauen Zahlen: 94 Prozent der von den Herstellern veröffentlichten Studien bescheinigen den Antidepressiva, dass sie wirksam sind. Nahm man dagegen veröffentlichte und unveröffentlichte Studien zusammen, sprachen gerade einmal 51 Prozent der Studien für die Wirksamkeit dieser Mittel. Das Ergebnis sorgte für Aufruhr in der Fachwelt und die Industrie erntete heftige Kritik an ihrer Veröffentlichungspraxis. Ein Jahr später widmete sich das gleiche Fachmagazin einem Epilepsie-Medikament namens Gabapentin. Die Magazinautoren fanden heraus, dass 11 von 20 Studien zu Gabapentin zumindest teilweise unter den Tisch gefallen waren. Doch das war nicht alles: Bei den meisten der übrigen Studien deckten die Autoren eine besondere Form der Manipulation auf: Die Ziele der Studien wurden im Nachhinein umdefiniert. Zufällig gefundene Nebeneffekte wurden zum Hauptergebnis gemacht.

    "Hier kommt jetzt ein Effekt zum Tragen, den wir als Wechsel des Zielkriteriums bezeichnen würden, das ist eben das, was man vielleicht vergleichen kann mit einer Fußballwette, wo man eigentlich gesagt hat, wir haben nach Toren gewettet und man im Nachhinein nicht sagen kann: Meine Mannschaft hatte 70 Prozent Ballbesitz, deshalb habe ich das Spiel doch gewonnen, auch wenn es 1:1 ausgegangen ist."

    Dr. Stefan Sauerland, Arzneimittelprüfer beim Iqwig. Bei Gabapentin wandelte der Hersteller Parke-Davis Randbeobachtungen bei den Epilepsie-Patienten in das eigentliche Studienergebnis um. So verbesserten sich bei einigen der freiwilligen Testpatienten während der Behandlung mit dem Epilepsie-Medikament ganz andere Beschwerden wie Kopf- und Nervenschmerzen. Daraufhin verkündete Parke-Davis als Ergebnis der Studie: Gabapentin wirkt gegen Migräne und Nervenschmerzen. Doch wer Epilepsie hat, wird sich kaum für die Etablierung eines Migränemittels zur Verfügung stellen. Und erst recht nicht dafür, dass die Ergebnisse in einer Schublade verstauben. Wieseler:

    "Es widerspricht den ethischen Anforderungen an klinische Studien, es ist sicherlich auch ein Missbrauch von Patienten, die in Studien gehen, um diesen Wissenszuwachs zu ermöglichen."

    Und was sagt die Industrie dazu? Wie stehen die Pharmafirmen zu den massiven Manipulationsvorwürfen?

    Mitten in Berlin, in strategisch günstigster Nähe zu den politischen Entscheidern hat der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller, kurz VFA seinen Sitz. Der Zusammenschluss von 45 großen Pharmaunternehmen gilt als einflussreichster Lobbyverband der gesamten Branche.

    "Mein Name ist Siegfried Throm, ich bin hier Geschäftsführer Forschung, Entwicklung, Innovation."

    Für Dr. Siegfried Throm ist das Nichtveröffentlichen von unliebsamen Studiendaten kein aktuelles Thema.

    "Es gibt die Diskussion schon seit vielen, vielen Jahren. Was wir beobachten, ist: Je transparenter die Industrie wird, desto größer wird das Thema. Und das ist unseres Erachtens nicht angebracht. Es gab in der Vergangenheit eine ganze Reihe von Initiativen, insbesondere auch der forschenden Arzneimittelhersteller, um dem Problem der Publikation von klinischen Studien, Registrierung von klinischen Studien, Herr zu werden. Die laufen seit vielen Jahren und sind aus unserer Sicht sehr erfolgreich."

    Tatsächlich gibt es seit geraumer Zeit eine Selbstverpflichtung der Industrie. Ab Mitte 2005 haben die meisten Hersteller international öffentlich beteuert, man wolle alle klinischen Studien in Zukunft registrieren und nach Zulassung der Mittel auch veröffentlichen. Ob aber die Selbstverpflichtung eingehalten wird, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Gerd Antes von der deutschen Zweigstelle der Cochrane-Collaboration, jener Gruppe von Studienprüfern, die mit dem Grippemittel Tamiflu so viel Aufsehen erregt hat:

    "Der VFA sagt natürlich nach außen: Eigentlich ist es kein Problem, wir haben ja die Verpflichtung. Die Zahlen sprechen eindeutig eine andere Sprache. Es wird natürlich bei weitem nicht alles publiziert, also die Zahl '50 Prozent wird nicht publiziert' steht weltweit wie eine Eins."

    Throm: "Diese Zahlen können meines Erachtens nur dann zustande kommen, wenn man auf ältere Studien geht. Aber bei den neueren sollte das nicht mehr vorkommen."

    Also alles nur ein Problem der Vergangenheit, wie Siegfried Throm sagt? Eine aktuelle Untersuchung englischer Forscher belegt das Gegenteil, veröffentlicht Anfang des Jahres im renommierten Fachblatt "British Medical Journal". Als Schauplatz ihrer Untersuchung wählten die Forscher die USA. Mit gutem Grund: Dort hat man sich schon seit 2007 nicht allein auf die Selbstverpflichtung der Pharmaindustrie verlassen. Vielmehr installierte die Regierung ein Gesetz, das weltweit Standards setzte: Klinische Studien müssen per Gesetz registriert und veröffentlicht werden. Und zwar innerhalb eines Jahres nach Abschluss, bei Vergehen droht Strafe. Doch selbst dieser weit reichende gesetzliche Druck zeigt bestenfalls magere Wirkung: Von den Industrie-finanzierten Klinischen Studien waren nach Ablauf der Frist von einem Jahr gerade einmal 40 Prozent statt 100 Prozent publiziert. Die englischen Autoren der Untersuchung bemerken dazu lakonisch:

    Wir hoffen, dass die Rate an Veröffentlichung steigt, je mehr die Macher Klinischer Studien mit der Gesetzgebung vertraut werden.

    Offenbar ist die Wirkung der strengen Gesetzgebung bisher verpufft, weil niemand prüft, ob sie auch eingehalten wird. Immerhin hat die US-Arzneimittelbehörde FDA jetzt eine Untersuchung eingeleitet, aufgerüttelt durch die geringe Publikationsrate. Weitere, ernüchternde Enthüllung der englischen Autoren: Die Pharmaindustrie schneide noch gut ab. Würden klinische Studien von öffentlichen Geldgebern wie Stiftungen oder Universitätskliniken finanziert, sinke die Publikationsrate sogar auf unter zehn Prozent. Stefan Sauerland vom Iqwig:

    "Das liegt einfach daran, dass man versucht, seine eigene Therapie schöner darstellen zu wollen, als es wirklich ist, dann eben nur die guten Studien veröffentlicht, wo man zeigen kann, da kommt was raus und bei den anderen Studien, wo das nicht so klar rauskommt oder wo sogar das Gegenteil herauskommt, dass man diese Studien zurückhalten möchte. Man will ja weiter in dem Bereich arbeiten, man hat vielleicht sogar seine eigene Professur oder seine eigene Klinik mit Haut und Haaren an diese Therapie gehängt und ist natürlich auch gekniffen, wenn am Ende diese Therapie sich als nicht erfolgsbringend zeigt."

    Helios-Klinik Berlin-Buch, Abteilung für Onkologie. Hier wie in allen anderen Krebsstationen wandeln Ärzte und Patienten immer auf einem schmalen Grat zwischen Überleben und Aufgeben. Denn Krebsmedikamente wirken oft nur schwach. Zu schwach, um das Leben der Krebspatienten wirklich zu retten. Eine Lebensverlängerung - häufig nur für Wochen, bestenfalls Monate - die gilt in vielen Fällen schon als Erfolg. Auf der anderen Seite gibt es Nebenwirkungen. Viele Krebsmedikamente sind Zellgifte, sie lassen die Patienten leiden. Schwache Wirkung bei starker Nebenwirkung oder anders gesagt: Wenig Nutzen, viel Schaden. Dazwischen die Balance zu halten ist eines der großen Probleme in der Krebstherapie. Umso gravierender daher für Ärzte und Patienten, wenn wertvolles Wissen über Nutzen und Schaden unter Verschluss bleibt. Professor Wolf-Dieter Ludwig, Onkologe und Chefarzt der Klinik für Hämatologie, Onkologie und Tumorimmunologie in Berlin-Buch.

    "Es gibt eine sehr aktuelle Übersicht, die zeigt, dass von den Phase-III-Studien, also der letzten Phase vor der Zulassung, etwa 25 Prozent der Studien fünf Jahre nach Abschluss dieser Studien nicht publiziert sind. Das heißt, dass dort wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse den onkologische Wirkstoffe verschreibenden Ärzten nicht zur Verfügung stehen."

    Wolf-Dieter Ludwig ist auch Vorsitzender der Arzneimittelkommission. Dieses gewichtige Gremium begutachtet Medikamente für die gesamte Ärzteschaft und gibt Therapieempfehlungen aus. Wohl wissend, dass man sich damit gerade in der Onkologie auf dünnes Eis begibt. Nicht nur, weil Studien in der Schublade bleiben. Es gibt ein weiteres Problem: Krebsmedikamente sind zunehmend maßgeschneidert auf bestimmte Tumore. Entsprechend sinkt die Zahl der Patienten, für die sie geeignet sind. Und damit sinkt automatisch die Zahl der Patienten, an denen die Mittel vor der Zulassung überhaupt getestet werden können. Der eigentliche Praxistest beginnt daher nach der Zulassung, in den Kliniken, im Alltag der Krebsmedizin. Doch offenbar fehlt der Anreiz, gerade in dieser entscheidenden Phase weiter Patienten zu beobachten und die entsprechenden Daten zu veröffentlichen. Ludwig:

    "Ganz gravierend ist es bei Nebenwirkungen. Dort haben wir gute Hinweise, dass natürlich bei den onkologischen Wirkstoffen, die sehr toxisch sind, zum Zeitpunkt der Zulassung wir unvollständige Erkenntnisse haben und dass nach der Zulassung es sehr lange dauert, bis diese unerwünschten Wirkungen auch publiziert werden und Eingang finden in die Fachinformationen, das heißt die Packungsbeilage. Auch das ist eine Situation, die wir vor dem Hintergrund des marginalen Nutzens vieler dieser Arzneimittel nicht akzeptieren."

    Aber nicht nur in der Onkologie, auch in anderen Bereichen der Medizin hat fehlendes Wissen durch fehlende Publikationen Folgen. Dies zeigt eine neue Untersuchung französischer Forscher, veröffentlicht im April 2012. Die Forscher untersuchten die Informationslage zu Antidepressiva, diesmal aber aus der speziellen Sicht verschreibender Ärzte. Zwölf häufig verordnete Antidepressiva wurden daher ausschließlich auf Grundlage von Literatur bewertet, wie sie Ärzte und ihre Fachgesellschaften gerne benutzen. So zum Beispiel Pharma-unabhängige Vergleichsanalysen zwischen verschiedenen Medikamenten. Damit sollen Ärzte im Alltag schneller entscheiden können: Welches Mittel ist das bessere? Die Forscher glichen nun diese Art Hitliste der angeblich wirksamsten Antidepressiva mit Daten ab, die bisher nicht publiziert worden waren. Gefunden hatten sie diese Daten in einer Online-Datenbank der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA. Die FDA stellt dort mittlerweile viele Studiendaten ein, die sie von Firmen für die Zulassung bekommt, die aber nicht unbedingt veröffentlicht sein müssen. Die Analyse dieser Daten ergab nun: Zwar wirken die Mittel, sonst hätte die FDA sie auch gar nicht zulassen dürfen. Aber wie stark, das erschien nun in einem ganz anderen Licht: Die Reihenfolge vom besten zum schlechtesten Mittel wurde teilweise auf den Kopf gestellt. Und die Effektstärke der Antidepressiva – ein Maß für ihre tatsächliche Wirkung gegen Depression - musste bei jedem zweiten Mittel um mindestens 100 Prozent korrigiert werden. Gerd Antes:

    "Es ist ohne Zweifel so, dass der Publication Bias voll durchschlägt bis zum Patienten. Das wissen wir aus den Arbeiten zum Beispiel zu den Psychopharmaka, die Überschätzung im Mittel zeigt einfach, dass der Arzt, ohne dass er anders kann, falsche Dinge verschreibt. Und daran besteht nicht der geringste Zweifel, da gibt es Dutzende von Arbeiten zu."

    Wie könnte eine Lösung des Problems aussehen? International sind sich die meisten Arzneimittelexperten einig: Der Druck auf die Macher Klinischer Studien muss weiter erhöht werden. Zum einen durch eine gesetzliche Pflicht zur Registrierung jeder Studie von Anfang an. Jede Studie soll eine Art Geburtsurkunde bekommen, in der Ablauf und Ziel protokolliert wird, um Manipulationen zu verhindern. Darüber hinaus lautet die Forderung: Wir brauchen weltweit eine gesetzliche Veröffentlichungspflicht, so, wie sie in den USA seit Jahren gilt. Und tatsächlich hat die Bundesregierung im Frühjahr 2011 reagiert mit einem Gesetz. Es wurde dafür eigens ein neuer Paragraph ins Arzneimittelgesetz eingefügt, Paragraph 42b. Darin heißt es:

    Der Sponsor hat die Ergebnisse der klinischen Prüfung innerhalb eines Jahres nach ihrer Beendigung zur Verfügung zu stellen.

    Gerd Antes: "Dieser Paragraph 42b ist eine Mogelpackung. Der Entwurf hat bis zur letzten Minute im Text das Wort 'Veröffentlichung' enthalten, als er dann tatsächlich durch das Parlament ging, war die Formulierung in letzter Minute dahingehend geändert, dass das Wort 'Veröffentlichung' nur noch in der Titelzeile vorkommt und im Text an jeder Stelle nur noch 'zur Verfügung stellen' steht, das heißt: Es hat sich praktisch nichts geändert. Es ist wie vorher so, dass die Studien den Behörden zur Verfügung gestellt werden, aber die Forderung, die gesetzliche Forderung nach Publikation ist raus."

    Gerd Antes vom deutschen Cochrane-Zentrum kritisiert, dass unter Druck der Pharmaindustrie die Veröffentlichungspflicht aufgeweicht wurde. Besonders fragwürdig sei auch folgende Passage im Gesetzestext:

    Diese Berichte sind innerhalb von sechs Monaten nach Erteilung der Zulassung oder der Genehmigung für das Inverkehrbringen zur Verfügung zu stellen.

    Nach Erteilung der Zulassung also. Wird das Mittel nicht zugelassen, gilt demnach keine Veröffentlichungspflicht.

    Gerd Antes: "Alles das, was richtig schief geht auf dem Weg zur Zulassung und deswegen abgebrochen wird, unterliegt nicht dieser Publikationspflicht. Und das ist natürlich sozusagen ein Supergau in einem Gesetz, was praktisch den Zweck auf den Kopf stellt."

    Denn Studien sollen nicht nur veröffentlicht werden, damit Ärzte Medikamente richtig einschätzen. Wenn Medikamentenversuche an Patienten zeigen, dass ein Mittel nicht wirkt oder zu schwere Nebenwirkungen hat, so ist das ebenfalls eine wichtige Information für all jene Forscher, die ähnliche Studien planen. Antes:

    "Das ist die Frage, wie gehe ich mit der Studie um und verhindere ich vor allen Dingen, dass sich das, was an einer Stelle mal schief gegangen ist, nicht an anderer wiederholt."

    Gerne hätten wir auch die Bundesregierung zu dieser Wiederholungsgefahr befragt. Doch das Bundesgesundheitsministerium wollte kein Interview geben. In einer schriftlichen Stellungnahme sieht es jedoch Patienten geschützt - durch rechtliche Rahmenbedingungen.

    Deren Einhaltung ist vorab in einem behördlichen Genehmigungsverfahren und im Verfahren der Beteiligung von Ethik-Kommissionen zu prüfen. Von den Ethik-Kommissionen ist insbesondere die ethische Vertretbarkeit des Forschungsprojektes zu prüfen.

    Doch wie genau Ethik-Kommissionen Kenntnis von Studienergebnissen bekommen können, die nach § 42b ja gar nicht veröffentlicht sein müssen – das bleibt Geheimnis des Ministeriums. Obendrein hat die Bundesregierung bei der Gestaltung des neuen Paragraphen auch auf die Verankerung einer umfassenden, nationalen Registrierungspflicht verzichtet. Die deutsche Gesetzgebung fällt daher deutlich lascher aus die in den USA oder auch in der Schweiz. Auf Nachfrage verweist das Gesundheitsministerium auf die EU.

    In der EU und mithin auch in Deutschland ist für klinische Arzneimittelstudien eine Registrierung in einem Register der Europäischen Union vor der Durchführung vorgeschrieben.

    Tatsächlich existiert dieses EU-Register seit 2004. Doch bis heute sind die Inhalte nur in Teilen öffentlich zugänglich, es ist daher zur Zeit weder für Ärzte noch für die Öffentlichkeit eine verlässliche Quelle. Ein Riesenproblem, doch immerhin hat die anhaltende Kritik für Bewegung gesorgt. Erste Schritte in Richtung Datentransparenz sind getan, wenn auch Deutschland und die EU dabei der US-Gesetzgebung hinterherhinken. Unterstützung kommt in der Zwischenzeit von einem anderen Akteur im Pharmageschehen, den Zulassungsbehörden. An ihnen kommt die Pharmaindustrie nicht vorbei, wenn ein Medikament auf den Markt soll. Die Firmen müssen dort umfassende Daten bis ins Detail abliefern, sonst droht die Ablehnung der Zulassung. Bisher konnte sich die Industrie allerdings darauf verlassen, dass die Behörden die eingereichten Firmendaten geheim hält. Doch das ändert sich jetzt. Dr. Karl Broich, Vizepräsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte, der deutschen Zulassungsbehörde:

    "Es wird immer Einzelheiten geben, wo es auch um Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse eines pharmazeutischen Unternehmens geht, die bleiben halt geschützt, die können wir nicht ohne Weiteres weitergeben, aber alles, was für die Beurteilung von Wirksamkeit und Patientensicherheit notwendig ist, da ist zunehmende Transparenz da und da bemühen wir uns auch von unserer Seite, die entsprechenden Daten zur Verfügung zu stellen."

    Und das sind nicht nur Lippenbekenntnisse. Das zeigt das Beispiel Tamiflu. Roche weigert sich bis heute, an die Cochrane-Collaboration sämtliche Daten zum Grippemittel auszuhändigen. Schützenhilfe kam aber von der europäischen Zulassungsbehörde EMA. Dort lagerten 22.000 Seiten Studiendaten zu Tamiflu. Und die EMA war tatsächlich bereit, diese Daten Cochrane zu überlassen. Gerd Antes vom deutschen Cochrane-Zentrum:

    "Die Behörden spielen wesentlich weiter mit, als man glaubt. Auch das war bis vor kurzem nicht richtig bekannt, weil es so unscheinbar ist. Es gibt ja inzwischen sowohl in Europa als auch den USA den so genannten freedom of information act. Das heißt die Bürger haben in diesen Ländern inzwischen weit verbreitet das Recht, von Behörden Einsicht zu fordern, Akten, Unterlagen und zwar weit über den Bereich, über den wir gerade sprechen, hinaus."

    Ein Recht, das auch Arznei-Prüfern von Cochrane oder vom Iqwig ermöglicht, bisher als geheim geltende Industrieunterlagen von den Behörden anzufordern. Im Falle von Tamiflu waren die Studienunterlagen für Cochrane so ergiebig, dass die bisherige Bewertung des Grippemittels, das millionenfach von Regierungen weltweit als Notmittel gegen Pandemien gelagert wird, fast ins Gegenteil umschlug: Vom Wundermittel, das gegen Grippe vorbeugt und sie gleichzeitig heilt, zum Skandalmedikament, das seinen Milliardenerfolg auf geschönten Ergebnissen gründet. Zumindest bei Tamiflu damit Ende gut – alles gut? Ein Sieg hartnäckiger Kämpfer für Transparenz gegen die Interessen einer mächtigen Industrie? Wohl nicht, sagt Gerd Antes:

    "Alles was wir sehen ist, dass sich alle Verantwortlichen wegducken, diese Situation klein reden, ignorieren und die Verantwortung auf andere schieben."

    Daher ist derzeit noch offen, wie der Fall Tamiflu zu Ende geht. Die europäische Zulassungsbehörde EMA, die Tamiflu 2002 auf den Markt ließ, sieht jedenfalls keinen Grund, diese Zulassung zu revidieren. Tatsache ist auch, dass Cochrane für seine Tamiflu-Bewertung immer noch nicht alle Roche-Daten zur Verfügung hatte. Es bleibt daher noch viel Spielraum für Interpretationen.

    "Ich muss diese Balance zwischen maximalem Nutzen und minimalen Schaden so gestalten, dass es für den Menschen am besten ist und dann kommt die Wissenschaft und dann kommt die Ökonomie und daran gibt es aus meiner Sicht keinen Zweifel. Das ethische Prinzip geht über alles."