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Gehirn im Kino

Medizin. – Der Kinobesuch ist einerseits ein geselliges Erlebnis, andererseits bietet er genug Stoff für Kontroversen, und damit für Gesprächsstoff. Ob beim Blick auf die Leinwand die Gemeinsamkeiten oder die Unterschiede überwiegen, ist unter Hirnforschern umstritten. In der neuen Ausgabe der Zeitschrift "Science" berichten jetzt Forscher aus Israel, was sich tatsächlich abspielt, wenn das Gehirn ins Kino geht.

Von Volkart Wildermuth |
    Langweilig, so lassen sich die meisten psychologischen Experimente zum Thema Wahrnehmung beschreiben. Um streng kontrollierte immer vergleichbare Ergebnisse zu bekommen müssen sich die Versuchspersonen so spannende Bilder wie wandernde Streifen oder hüpfende Punkte ansehen.

    Ganz anders im Labor von Professor Raphael Malach vom Weizman Institut in Rehovot, Israel. Hier knalle Gewehrschüsse, Salontüren werden dramatisch aufgestoßen, Revolverhelden runzeln die Augenbrauen und über allem liegt die Musik von Ennio Morricone. Für Westernfan Rafael Malach ist das genau das richtige Material für Wahrnehmungsstudien.

    Wir wollen diese Frage so natürlich und offen wie möglich angehen, und wenn man darüber nachdenkt, was die vielfältigsten und dynamischen visuellen Eindrücke im täglichen Leben bietet, dann ist das natürlich das Kino. Und wir haben uns gefragt, wenn wir verschiedenen Leuten denselben Film zeigen, wie ähnlich werden ihre Gehirne arbeiten und in wie weit werden ihre Persönlichkeit, ihr Geschmack und so weiter unterschiedliche Reaktionen erzeugen. Zu unserer Überraschung gab es verblüffende Ähnlichkeiten zwischen den neuronalen Erregungen verschiedener Leute. Etwa ein Drittel der Gehirne wurde in synchronen Mustern aktiviert. Die Kraft des Films, die Stärke der Bilder des Regisseurs sind offenbar in der Lage, die Zuschauer so zu fesseln, dass ihre Gehirne alle gemeinsam ticken wenn sie den Film sehen.

    Zehn Studenten hat Rafael Malach in den Gehirnscanner gesteckt und ihnen jeweils eine halbe Stunde von "The good, the bad and the ugly" von Sergio Leone vorgespielt,. Und während Clint Eastwood und Lee van Cleef gegeneinander antraten, verglich ein Computerprogramm Sekunde für Sekunde, Millimeter für Millimeter, wie die Gehirne der Studenten auf die Bilder und Geräusche reagierten. Obwohl jede Szene vielfältige optische Reize enthält, obwohl jeder Versuchsteilnehmer, seine Augen schweifen lassen konnte, wie er wollte, obwohl jeder eigene Erinnerungen mit dem Film verknüpfte, reagierten die unterschiedlichen Gehirne ziemlich einheitlich, besonders in der hinteren Hälfte des Kopfes. Hier werden Bildreize und Töne verarbeitet, aber die Übereinstimmungen erstreckten sich auch auf höhere Hirnregionen, die etwa auf das visuelle Gedächtnis zurückgreifen, die Sprache analysierten oder die Aufmerksamkeit steuern. Es scheint also wirklich so zu sein, dass ein Gutteil des Gehirns aus nervlicher Konfektionsware besteht, die bei jedem gleich arbeitet. Rafael Malach wollte aber nicht nur von außen in das Gehirn im Kino hinein sehen, er interessierte sich auch umgekehrt dafür, aus welcher Perspektive einzelner Hirnregionen den Film betrachten. Schneidet er alle Szenen hintereinander, bei denen ein Gebiet seitlich am Hinterkopf aktiv ist, entsteht eine Galerie von Nahaufnahmen der Cowboys, denn dieses Areal ist für die Erkennung von Gesichtern zuständig. Einen Zentimeter weiter liegen Nerven, die an der Orientierung im Raum beteiligt sind, aus ihrer Sicht ist der Film eine Folge von Landschafts- und Gebäudeaufnahmen.

    Die Funktion von vielen Hirnregionen ist unbekannt. Wir können jetzt darstellen, was sozusagen der Lieblingsfilm eines Nervenzentrums ist. Zum Beispiel war da ein Areal, das normalerweise Berührungen verarbeitet. Überraschender Weise reagierte es auch auf den Film. Wir haben nachgesehen, welche Szenen diese Nerven aktivieren und es waren immer Handbewegungen, der Griff zum Colt, das Öffnen einer Tür, ein Finger an der Augenbraue. Das ist eine schöne Verbindung zwischen dem Tastsinn und dem optischen Eindruck von Handbewegungen. Das ist eine Stärke der Arbeit mit so vielfältigen Reizen. Wir können eine Hirnregion fragen, was sie an einem Film mag.

    Das Tastzentrum reagiert auch auf Bilder von Händen. Diese Verbindung passt zu einer neuen Theorie, nach der das Gehirn eine Szene versteht, in dem es sie sozusagen im Geiste nach spielt. Bei Affen gibt es Nerven, die sowohl aktiv sind, wenn das Tier selbst eine Bewegung ausführt als auch, wenn es die gleiche Handlung bei einem anderen Affen sieht. Das Filmexperiment belegt, dass es solche Spiegelungen auch beim Menschen gibt. Rafael Malach war überrascht, dass ein Drittel des Gehirns offenbar bei allen Kinobesucher gleich reagiert. Es gibt aber auch große Regionen, deren Erregungsmuster ganz individuell bleiben, egal was Clint Eastwood auf der Leinwand macht.

    Glücklicherweise gibt es die, ich wäre wirklich deprimiert, wenn wir alle exakt gleich ticken würden. Die frontale Hirnrinde gehört natürlich dazu. Sie ist an Entscheidungen beteiligt, bei der freien Wahl und es passt, dass so eine Region individueller reagiert. Auf der anderen Seite muss man im Kino keine Entscheidungen fällen, man sieht sich einfach den Film an.

    Jedes Gehirn bietet auch breiten Raum für individuell maßgeschneiderte Nervennetze. Doch wenn Rafael Malach seinen Versuchspersonen im Gehirnscanner die Wahl zwischen Popcorn und Vanilleeis gelassen hätte, wer weiß, vielleicht wären dann noch mehr Hirnregionen in gemeinsame Erregungsmuster verfallen.